Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Die Arbeitenden Wie immer im Sommer trafen wir uns noch bevor die Sonne ihre gleißende Glut verschüttete auch an jenem Tag - der unser letzter Arbeitstag werden sollte - früh Morgens draußen vor dem Dorf, bei der Werkstatt, die am Rande eines kleinen Flusses gelegenen war. Gähnend standen wir vor den Stufen, welche hinauf zu der großen Tür mit dem gotischen Bogen führten. Die meisten von uns reckten und streckten ihre Glieder vor Müdigkeit, so als wären wir erst in diesem Augenblick dem Bett entstiegen. Einer von denen, die am häufigsten gähnten meinte, dass es sinnvoller sei, zumindest aber angenehmer, würden wir den Tag am Ufer des Flusses im Schatten der Weiden liegend verbringen und nicht in der Werkstatt, schwitzend und an einem kalten wie leblosen Stück Metall feilend. Doch ein paar andere foppten die, welche sich diesem Vorschlag anschlossen und als wir nun, infolge der spaßigen Unterhaltung herzhaft lachend uns gegenseitig für den Tag aufmunterten, näherte sich mit knatterndem Lärm das Moped mit unserem Ältesten, der, weil er der Älteste war, den Schlüssel für die Werkstatt überantwortet bekommen hatte - so wie es die Tradition vorsah. Dass er immer etwas später kam als alle anderen und uns ein paar Minuten vor verschlossener Tür warten ließ, waren wir gewohnt. Und so verstummten die begonnen Unterhaltungen auch nicht mehr, wie es früher üblich gewesen war, um das Ereignis des "auch schon" eintreffenden Schlüsselmannes - wie wir ihn ob seiner Funktion nannten - gebührend zu huldigen. Auf den Stufen zur Werkstatt bildete sich unmerklich ein Spalier aus dessen Reihen ein vielstimmiges "morgen" murmelte, nachdem der Schlüsselmann sein Moped abgestellt hatte und zur Tür hinauf stieg um sie zu öffnen. Zuerst brachten wir unsere Taschen und Beutel mit dem Frühstücksbrot und unsere Henkelmänner mit dem Mittagessen in eine kleine, von der eigentlichen Werkstatt abgeteilte Kammer. Dann öffneten wir zu beiden Seiten des länglichen Gebäudes die Fenster und die sogleich einströmende Morgenluft gab dem Raum, der nach Metall, nach Öl und Schlichtwasser roch, etwas beschwingtes, vollkommen unbeschwertes, so das wir uns unter freiem Himmel wähnten. Obwohl uns noch ein langer Arbeitstag bevorstand, empfanden wir diese ersten Minuten an jenen hellen Sommertagen als ein uns ganz erfüllendes Erlebnisse und fast andächtig bewegten wir uns zwischen den Werkbänken, genossen diese frischen unschuldigen Augenblicke des Tages, die taufeuchte Luft, die durch die Fenster strömte und sich so lieblich mit dem vertrauten Geruch der Werkstatt vereinigte, bis dann plötzlich irgend jemand etwas sagte, zum Beispiel, das er eigentlich überhaupt keine Lust habe zu arbeiten. Dann rief ein andere, ja das kennen wir schon, wie üblich, und alle lachten. So auch an jenem Tag. Bevor wir an unsere Arbeitsplätze gingen und das Werkzeug aus den Schubläden holten, um es griffbereit und einer ewigen Ordnung hörig auf dem Tisch auszubreiten, versammelten wir uns, noch spaßig schwatzend und gestikulierend um die tags zuvor angelieferte dunkle, kunstvoll mit Eisen beschlagene Holzkiste, die an ihrem Platz in der Werkstatt unweit des Einganges stand. Als wir nun beisammen standen verstummte das Gelächter und in gespannter Neugier versetzt, schauten wir den beiden zu, die begonnen hatten sich mit dem Deckel zu beschäftigen, der leicht gewölbt war - ähnlich dem Deckel auf einer Schatulle oder einem Sarg. Einige sprachen leise, mehr flüsternd, das es mit dieser Kiste etwas außergewöhnliches auf sich habe und die darin befindliche Arbeit sicher von eigenwilliger Natur sei. Rohlinge, erklärte unser Schlüsselmann, würde ich in so einer Kiste kaum aufbewahren,geschweige transportieren. Ein Familienschatz gehöre in so ein Möbel, betonte er, so das wir alle lachten. Woher sollte er schon einen Familienschatz haben. Nur unser Jüngster legte seinen Kopf nachdenklich zur Seite, schüttelte sich etwas, als fröre er, und erklärte, dass er sich wie auf einem Friedhof fühle, bei einer Graböffnung. Allen starb das Schmunzeln und wir schauten unseren Jüngsten verwundert an. Die Kiste war ungewöhnlich fest verschlossen. Und so dauerte und dauerte es sie zu öffnen. Doch endlich gelang es unseren beiden Kollegen den Deckel zu heben und bei allen zeichneten sich deutliche Spuren der Erleichterung auf den Gesichtern ab - wenn auch ein wenig mit Enttäuschung. Der Deckel ließ sich bar jeglichen Geräusches aufklappen und mit einem satten Ton stieß er gegen die Seitenwand. Unseren Blicken bot sich eine gleichmäßige Schicht Holzwolle; so wie es üblich war um metallische Werkstücke für den Transport zu verpacken. Wir schoben nach kurzem Zögern die Holzwolle beiseite und ergriffen einen Umschlag, der, wie wir uns hastig überzeugten, Zeichnungen enthielt. Einer schnappte sich den Umschlag und lief zur Stirnwand unserer Werkstatt, an der eine Tafel angebracht war, um daran Zeichnungen heften zu können, während wir anderen in der Holzwolle wühlten und ganz vorsichtig einen Barren nach dem anderen zutage beförderten, bis die Kiste leer war und jeder eines dieser unterarmlangen Rohlinge in den Händen hielt. Die Barren waren verrostet. Nichts ungewöhnliches, sicher, denn die meisten Rohlinge wurden uns zumindest angerostet geliefert. Aber dieser Rost verwunderte uns wegen seiner roten, an manchen Stellen sogar hellroten Farbe. Und dann diese Flecken: sanftporöse Rostflecken, kaum mehr als daumnagelgroß und hautfarbend. Wir drehten die Metallstücke hin und her, beschauten sie von allen Seiten, hielten die Barren in die Höhe, drehten sie, um zu sehen ob sich die Farbe bei wechselndem Licht ändern würde; streichelten zart über die Oberfläche und manch einer schabte - ganz vorsichtig - mit seinem Fingernagel über den Rost. War das überhaupt Metall? Eisen sicher nicht. Auch Aluminium nicht, stellten einige bestimmend fest, aber was sonst? Messing? Nein, Messing nicht und ebenso sicher war es auch kein Kupfer. Jeder rätselte und versuchte sich zu erinnern ob ihm jemals ein solches Metall in die Hände gekommen war: doch vergebens. Die Zeichnung! rief plötzlich einer. Oh ja, die Zeichnung. Wir eilten zu unseren Werkbänken, legten die Rohlinge neben den Schraubstöcken und versammelten uns umgehend bei der Tafel, wo wir mit einem ratlosen Kopfschütteln desjenigen Empfangen wurden, der die Zeichnung an die Tafel geheftet hatte und nun rätselnd davor stand. Es waren sehr saubere Zeichnungen. Ansichten des zu fertigenden Werkstücks von allen Seiten mit reichlich für uns Handwerker notwendigen Maßangaben versehen, nur: wir entdeckten weder einen Hinweis über die Art des gelieferten Materials, noch gelang es uns die Zeichnung selbst zu deuten. Auf abstruse Weise schienen unterschiedliche Torsie ineinander verschmolzen zu sein. Wenn wir der Draufsicht rechtwinklige Kanten entnahmen, schienen diese Kanten bei den Seitenansichten abgerundet zu sein. Überhaupt glaubten wir nach einiger Zeit des Rätseln eher ein kanten freies, ein mit sanften Rundungen versehenes Werkstück anfertigen zu müssen, das uns mehr an ein abstraktes Kunstwerk erinnerte denn an ein Maschinenteil, welches anzufertigen für uns ja eine alltägliche Arbeit war. Wie zusammengewachsene Kartoffeln witzelte schließlich einer und löste damit nicht nur Heiterkeit aus. Einige machten ihrem angestauten Unmut Luft und riefen: Unverschämtheit! Wir sollten diese Arbeit ablehnen. Doch andere meinten, dass es durchaus eine interessante Aufgabe sei und wir ihr nicht gleich entsagen sollten, nur weil alles etwas ungewöhnlich sei. Ungewöhnlich! riefen die sich empörenden, wobei sie höhnisch lachten, ja, wirklich ungewöhnlich, das kann man wohl meinen! Die Mehrheit nickte aber den Fürsprechern zu und drängte sich näher an die Tafel heran. Wir diskutierten und disputierten, wir überlegten und verwarfen, bis es tatsächlich einem von uns gelang, mit für alle überzeugenden Argumenten eine Erklärung zu geben und das Werkstück zu deuten. Nachdem nunmehr schon viel Zeit verronnen war und die Sonne ihre merklich warmen Strahlen durch die Fenster strömen ließ, begaben wir uns zu unseren Werkbänken und begannen unsere Arbeit - so spät wie noch nie -, indem wir die Rohlinge in die Schraubstöcke spannten um ihnen zunächst mit der flachen Grobpfeile die grundlegende Form zu geben. Das Metall unter der eigenartigen, recht dichten, wenn auch leicht abzuraspelnden Rostschicht war bleiern grau, nur viel härter als das butterweiche Blei, wenn auch ähnlich nachgiebig zäh. Es war ein sonderbares Gefühl auf diesem Metall zu feilen. Anfangs stellten sich manche an, als sollten sie zum ersten mal ein Werkstück bearbeiten. Es schien so, als hätten sie Angst dem Rohling eine Verletzung beizufügen. Das wir trotz allem gut voran kamen und die verlorene Zeit bis zum Frühstück aufholten, versöhnte uns ein wenig, wenn auch die Freude darüber nicht lange währte. Ein neuer Streit entbrannte an den sich abzeichnenden Formen, denn Vorbehalte kamen auf ob der richtigen Auslegung der Zeichnungen. Alsbald heftig diskutierend beendeten wir unsere Frühstückspause ungewöhnlich früh um uns erneut vor der Tafel versammelt zu beraten. Und wirklich, die Argumente waren berechtigt. Doch glücklicherweise kamen wir bald überein, wie die Arbeit fortzuführen sei - noch war das Werkstück nicht verdorben. Wenn auch von nun an keine Einwände mehr erhoben wurden, eine gewisse, nicht greifbare Skepsis begleitete auch weiterhin unser Werk. Inzwischen stand die Sonne so hoch, das ihr Schein nur noch indirekt in unsere Werkstatt drang: gespiegelt von dem im Licht flimmernden Weidenlaub, von dem hellen, saftigen Grün der den Weg zur Werkstatt säumenden Wiesen, sowie von den weißgelb leuchtenden Staub auf dem Platz vor dem Tor. Und manchmal blitzte die Sonne im Gestänge des Treppengeländers zu uns in die nun dunkler erscheinende Werkstatt, wo wir vor unseren Schraubstöcken standen und schweigend arbeiteten. Ja, ungewöhnlich genug: wir schwiegen und arbeiteten jeder für sich allein. Endlich aber war Mittag und unsere Pause, der wir in der letzten halben Stunde erschöpft wie schon lange nicht mehr entgegen fieberten, verbrachten wir am Ufer des kleinen Flusses, im Schatten der Weiden. Nachdem wir uns ein wenig in der kühlenden Nähe des Wassers erholt hatten, unsere Henkelmänner geleert waren und wir nun dösend im Gras lagen, dabei den herumschwirrenden Insekten gedankenverloren lauschten, meinte plötzlich der Jüngste, er habe den Eindruck das Metall, von dem wir noch immer nicht wussten zu welcher Sorte der Metalle es gehöre, lebe. Einige kicherten albern, so als wäre etwas süffisant-peinliches gesagt worden, andere schluckten vernehmlich und riefen, als wollten sie einen Schrecken so schnell als möglich zurückdrängen, rede kein dummes Zeug! Von dem barschen Ton überrascht, ließ sich der Junge in das Gras zurück sinken und eine Weile war nur das Summen der Insekten zu hören, bis dann der Junge sich nochmals aufrichtete und mit gedämpfter Stimme fragte - so als fürchte er nochmals zu erschrecken -, ob wir denn auch die Männer gesehen hätten, gestern, als sie die Kiste brachten. Ja sicher hatten wir sie gesehen. Allen waren die Männer aufgefallen, obwohl die Lieferung in Verschwiegenheit vollzogen wurde. Jeder war von seiner Arbeit auf gemerkt um zu schauen und nicht so, wie sonst, wenn ein Lieferwagen polternd vorgefahren kam und einige von uns herausgerufen wurden um mit anzupacken, die schweren, teils klapperigen Kisten in die Werkstatt zu hieven, dass dann einige - in ihrer Arbeit vertieft - nichts von alle dem mitbekamen und später überrascht waren, entdeckten sie das neue Material. Plötzlich war der in einem matten, licht verschlingenden Schwarz gehaltene Lieferwagen vor unsere Werkstatt gestanden; zwei vornehm dunkel gekleidete Herrn mit marmorfarbenen Gesichtern entstiegen ihrem Gefährt, öffneten lautlos die beiden Flügeltüren und zogen diese Kiste heraus, um sie - bar jede Regung von Anstrengung - genau dort abzusetzen, wo wir wünschten geliefertes Material deponiert zu bekommen, ohne das auch nur irgendeiner den uns fremden Männern eine entsprechende Anweisung gegeben hatte. Und so lautlos, wie sie gekommen waren, verschwanden die beiden auch wieder. Keinem war das entgangen. Und einige knöpften sich die Hemden zu als wäre ein Eishauch durch die Werkstatt gestrichen. Ja, so hatte es sich Tags zuvor ereignet, dachten - von der Frage des Jungen daran erinnert - wohl alle. Und Junge, warum fragst du, sagte nach einer Weile der Schlüsselmann, worauf der Junge antwortete, dass er das merkwürdig gefunden habe, schon gestern mit der Kiste und - und heute...Ach was merkwürdig! wandte einer laut rufend ein, lasst uns jetzt wieder arbeiten, die Pause ist um! Stille trat ein. Nur die Bienen und Fliegen brummten durch das Gras, der dünne Wind raschelte mit dem Laub der Weiden und aus der Ferne drang leises Geläut der Dorfkirche zu uns.Wir schauten auf das alte, mit einem braunen Ziegeldach bedeckte Gebäude unserer Werkstatt, deren grober, wenn auch leicht verwitterter Sandstein im grellen Sonnenlicht leuchtete. Zögernd erhoben wir uns, dabei betont langsam unsere Kleidung von Grashalmen säubernd als warte jeder auf irgend etwas, bis dann endlich der, der die Pause für beendet erklärt hatte, ausrief, ach was, so ein albernes Zeug! und demonstrativ heftigen Schrittes auf die Werkstatt zuging, die Stufen hoch eilte und zielstrebig in das Gebäude verschwand. Wir aber standen auf der Wiese, regten uns nicht und schauten nur hinüber zu dem großen Eingang, der sich im grellen Sonnenlicht wie ein alles verschlingender Rachen dem Tag entgegen sperrte. Wir müssten ihm folgen, dachten wohl alle. Doch zögerten wir, bis endlich der Jüngste und der Schlüsselmann, ja bis wir alle uns zaudernd in Bewegung setzten und so folgten wir unserem Kollegen, langsam wie vorsichtig, so als müssten wir jeden Augenblick auf dem Absatz kehrt machen. Es drängte sich keiner durch die Tür zu gehen. Als wir aber den Vor preschenden eifrig an seinem Werkstück arbeiten sahen und dazu erleichtert feststellten, dass alles sich noch in gewohnter Ordnung befand, begaben wir uns zu unseren Plätzen, ergriffen rasch die Feile um so schnell als möglich die uns nun albern anmutenden Gefühle der vergangenen Minuten vergessen zu machen. Wir arbeiteten so schweigsam wie schon den ganzen Vormittag. Nur die schrubbenden und schabenden Geräusche unserer Feilen mischten sich mit den lebhaften Klängen einer sommerlichen Natur. Laute, in die hinein irgendwann der Schlüsselmann rief, was ist eigentlich geschehen! jedoch sogleich mit seiner Arbeit weitermachte, als wäre das gar keine Frage sondern nur ein laut gesprochener, verstreuter Gedanke gewesen. Doch der Schein der angespannten Arbeit trog. Wir beobachteten uns ganz offen, indem wir immer und immer wieder mit der Arbeit inne hielten, unseren Blick durch die Werkstatt streifen ließen, nach irgend etwas suchend, bis unsere Augen sich bei irgendeinem verfingen und sehen konnten, wie dieser Kollege nicht nur das Werkstück zart in den Händen hielt und versonnen betrachtete; wir beobachteten uns auch dabei, wie wir die Feinspäne vorsichtig zwischen die Finger nahmen und die so mit den Spänen benetzten Kuppen prüfend gegeneinander rieben, bis wir Augen auf uns gerichtet spürten und uns mit einem verschämten Lächeln eilends wieder in die Arbeit vertieften. Als dann die ersten Sonnenstrahlen zwischen dem Laub der flussabwärts stehenden Weiden durch die Fenster blinzelten - auf der anderen Seite der Werkstatt, der Abendseite, wie wir sie auch nannten - und den Raum in eine späte Helligkeit tauchten, durchbrach einer unsere mönchische Stille, indem er rief: es sei nun die Zeit mit der Präzisionsfile weiter zu arbeiten. Wir schauten auf, befühlten unser Werkstück, nickten zustimmend und setzten unsere Arbeit mit dem neuen Werkzeug fort. Der Umgang mit dieser Feile verlangt ein zartes Fingerspitzengefühl. Wenn es auch kaum zu glauben ist, bei diesem sanft anmutenden Werkzeug, aber: eins, zwei drei und schon ist zu viel ab, dann ist das Werkstück verdorben, eine Menge Arbeitszeit vertan, das Material zumeist auch für andere Aufträge unbrauchbar: also nichts als Kosten und Ärger. Doch nicht allein diese äußeren, mehr ökonomischen Gründe mahnen zur Genauigkeit: es war für uns alle ein vom Herzen quellendes Bedürfnis unseren Arbeiten die größtmögliche Genauigkeit angedeihen zu lassen, der Innung zur Ehre gereichen, dem Handwerk mit Stolz in die eigenen Fähigkeiten ergeben zu sein, kurz: an den letzten, das Werkstück vollendenden Tätigkeiten erkennt man einen Meister seines Faches! Innigste Verbundenheit mit dem Material ist geboten, jeder Strich über das Werkstück will gut angesetzt und durchgeführt sein, einer mehr wäre vielleicht schon zu viel. Und da sage einer, Metalle zu bearbeiten sei fade, es sei ja bloß leblose, kalte Materie. Nein! gestreichelt werden will es, denn nur dann vermag es seine für uns so nützlichen Eigenschaften zu entfalten. Schichtwassergebrauch macht die ehedem schon sanft zu nennende Präzisionspfeile noch glatter, so das sich das Stahl der Feile mit dem Werkstück reibt, wie zwei Körper eines sich liebenden Paares aneinander schmiegen, keinen Raum lassend für die Rohheit des Lebens. Inzwischen strömte abendliche Frische durch die Fenster und die Sonne verzauberte mit ihrem rötlichem Licht den Fluss, die Weiden und Wiesen. Wir lächelten uns zu, etwas mit Stolz, darum wissend die Arbeit bald getan zu haben und eine lockere, beschwingte, der Sorge um diese eigenartige, nun bald gelöste Aufgabe entledigte Stimmung machte sich unter uns breit; einige sangen leise vor sich hin oder pfiffen, andere besprachen wie sie den Feierabend verbringen wollten. Die am Tag unterbliebene Kollegialität stellte sich nun um so heftiger ein; wir redeten laut über dieses und jenes, versprachen uns gegenseitig bei Ausbesserungen an unseren Häusern zu helfen, wir erkundigten uns nach dem Befinden von Frau, Kinder und Verwandte; wir verabredeten einen Skatabend und alles dieses sprudelte aus uns heraus, in so kurzer Zeit und so heftig, das sich eine so ausgelassene Stimmung einstellte wie selten zuvor. Und endlich lag es vor uns, dieses sonderbare Gebilde, welches anzufertigen wir beauftragt waren. Wir hatten es eingeölt um die Rostbildung zu verhindern; nun lag es da, auf dem dicken, öligen Tuch neben dem Schraubstock. Kaum einer aber mochte das Werkstück noch länger betrachten und so legten wir rasch unser Werkzeug in die Schubläden. Wir fegten die Werkstatt aus, wir lauschten für einen Moment dem abendlichen Gesang der Vögel, wir wuschen unsere Hände und Arme unter dem kühlenden Wasser eines Krans. Und ehe wir uns versahen standen wir auf den Stufen vor der Tür, dem Schlüsselmann zuschauend, wie er mit besonderer Sorgfalt die Werkstatt verschloss um sich darauf wortlos auf sein Moped zu setzen und mit einem letzten grüßenden Blick von uns zu fahren. Unterdessen war die Nacht angebrochen und der Mond war über dem Wald aufgegangen. Wieder schweigsam geworden gaben wir uns die Hand und verabschiedeten uns voneinander. Schon ein gutes Stück des Weges gelaufen schauten sich der eine oder andere noch einmal um. Die Werkstatt lag im silbernen Licht des Mondes wie eine dunkle Trutzburg aus längst verflossener Zeit, in deren Gemäuer Geister der Unwirklichkeit wachten und ewig auf eine ferne Zukunft hofften. Wir aber gingen und kehrten nie wieder an unsere Werkbänke zurück.
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Die Arbeitenden Wie immer im Sommer trafen wir uns noch bevor die Sonne ihre gleißende Glut verschüttete auch an jenem Tag - der unser letzter Arbeitstag werden sollte - früh Morgens draußen vor dem Dorf, bei der Werkstatt, die am Rande eines kleinen Flusses gelegenen war. Gähnend standen wir vor den Stufen, welche hinauf zu der großen Tür mit dem gotischen Bogen führten. Die meisten von uns reckten und streckten ihre Glieder vor Müdigkeit, so als wären wir erst in diesem Augenblick dem Bett entstiegen. Einer von denen, die am häufigsten gähnten meinte, dass es sinnvoller sei, zumindest aber angenehmer, würden wir den Tag am Ufer des Flusses im Schatten der Weiden liegend verbringen und nicht in der Werkstatt, schwitzend und an einem kalten wie leblosen Stück Metall feilend. Doch ein paar andere foppten die, welche sich diesem Vorschlag anschlossen und als wir nun, infolge der spaßigen Unterhaltung herzhaft lachend uns gegenseitig für den Tag aufmunterten, näherte sich mit knatterndem Lärm das Moped mit unserem Ältesten, der, weil er der Älteste war, den Schlüssel für die Werkstatt überantwortet bekommen hatte - so wie es die Tradition vorsah. Dass er immer etwas später kam als alle anderen und uns ein paar Minuten vor verschlossener Tür warten ließ, waren wir gewohnt. Und so verstummten die begonnen Unterhaltungen auch nicht mehr, wie es früher üblich gewesen war, um das Ereignis des "auch schon" eintreffenden Schlüsselmannes - wie wir ihn ob seiner Funktion nannten - gebührend zu huldigen. Auf den Stufen zur Werkstatt bildete sich unmerklich ein Spalier aus dessen Reihen ein vielstimmiges "morgen" murmelte, nachdem der Schlüsselmann sein Moped abgestellt hatte und zur Tür hinauf stieg um sie zu öffnen. Zuerst brachten wir unsere Taschen und Beutel mit dem Frühstücksbrot und unsere Henkelmänner mit dem Mittagessen in eine kleine, von der eigentlichen Werkstatt abgeteilte Kammer. Dann öffneten wir zu beiden Seiten des länglichen Gebäudes die Fenster und die sogleich einströmende Morgenluft gab dem Raum, der nach Metall, nach Öl und Schlichtwasser roch, etwas beschwingtes, vollkommen unbeschwertes, so das wir uns unter freiem Himmel wähnten. Obwohl uns noch ein langer Arbeitstag bevorstand, empfanden wir diese ersten Minuten an jenen hellen Sommertagen als ein uns ganz erfüllendes Erlebnisse und fast andächtig bewegten wir uns zwischen den Werkbänken, genossen diese frischen unschuldigen Augenblicke des Tages, die taufeuchte Luft, die durch die Fenster strömte und sich so lieblich mit dem vertrauten Geruch der Werkstatt vereinigte, bis dann plötzlich irgend jemand etwas sagte, zum Beispiel, das er eigentlich überhaupt keine Lust habe zu arbeiten. Dann rief ein andere, ja das kennen wir schon, wie üblich, und alle lachten. So auch an jenem Tag. Bevor wir an unsere Arbeitsplätze gingen und das Werkzeug aus den Schubläden holten, um es griffbereit und einer ewigen Ordnung hörig auf dem Tisch auszubreiten, versammelten wir uns, noch spaßig schwatzend und gestikulierend um die tags zuvor angelieferte dunkle, kunstvoll mit Eisen beschlagene Holzkiste, die an ihrem Platz in der Werkstatt unweit des Einganges stand. Als wir nun beisammen standen verstummte das Gelächter und in gespannter Neugier versetzt, schauten wir den beiden zu, die begonnen hatten sich mit dem Deckel zu beschäftigen, der leicht gewölbt war - ähnlich dem Deckel auf einer Schatulle oder einem Sarg. Einige sprachen leise, mehr flüsternd, das es mit dieser Kiste etwas außergewöhnliches auf sich habe und die darin befindliche Arbeit sicher von eigenwilliger Natur sei. Rohlinge, erklärte unser Schlüsselmann, würde ich in so einer Kiste kaum aufbewahren,geschweige transportieren. Ein Familienschatz gehöre in so ein Möbel, betonte er, so das wir alle lachten. Woher sollte er schon einen Familienschatz haben. Nur unser Jüngster legte seinen Kopf nachdenklich zur Seite, schüttelte sich etwas, als fröre er, und erklärte, dass er sich wie auf einem Friedhof fühle, bei einer Graböffnung. Allen starb das Schmunzeln und wir schauten unseren Jüngsten verwundert an. Die Kiste war ungewöhnlich fest verschlossen. Und so dauerte und dauerte es sie zu öffnen. Doch endlich gelang es unseren beiden Kollegen den Deckel zu heben und bei allen zeichneten sich deutliche Spuren der Erleichterung auf den Gesichtern ab - wenn auch ein wenig mit Enttäuschung. Der Deckel ließ sich bar jeglichen Geräusches aufklappen und mit einem satten Ton stieß er gegen die Seitenwand. Unseren Blicken bot sich eine gleichmäßige Schicht Holzwolle; so wie es üblich war um metallische Werkstücke für den Transport zu verpacken. Wir schoben nach kurzem Zögern die Holzwolle beiseite und ergriffen einen Umschlag, der, wie wir uns hastig überzeugten, Zeichnungen enthielt. Einer schnappte sich den Umschlag und lief zur Stirnwand unserer Werkstatt, an der eine Tafel angebracht war, um daran Zeichnungen heften zu können, während wir anderen in der Holzwolle wühlten und ganz vorsichtig einen Barren nach dem anderen zutage beförderten, bis die Kiste leer war und jeder eines dieser unterarmlangen Rohlinge in den Händen hielt. Die Barren waren verrostet. Nichts ungewöhnliches, sicher, denn die meisten Rohlinge wurden uns zumindest angerostet geliefert. Aber dieser Rost verwunderte uns wegen seiner roten, an manchen Stellen sogar hellroten Farbe. Und dann diese Flecken: sanftporöse Rostflecken, kaum mehr als daumnagelgroß und hautfarbend. Wir drehten die Metallstücke hin und her, beschauten sie von allen Seiten, hielten die Barren in die Höhe, drehten sie, um zu sehen ob sich die Farbe bei wechselndem Licht ändern würde; streichelten zart über die Oberfläche und manch einer schabte - ganz vorsichtig - mit seinem Fingernagel über den Rost. War das überhaupt Metall? Eisen sicher nicht. Auch Aluminium nicht, stellten einige bestimmend fest, aber was sonst? Messing? Nein, Messing nicht und ebenso sicher war es auch kein Kupfer. Jeder rätselte und versuchte sich zu erinnern ob ihm jemals ein solches Metall in die Hände gekommen war: doch vergebens. Die Zeichnung! rief plötzlich einer. Oh ja, die Zeichnung. Wir eilten zu unseren Werkbänken, legten die Rohlinge neben den Schraubstöcken und versammelten uns umgehend bei der Tafel, wo wir mit einem ratlosen Kopfschütteln desjenigen Empfangen wurden, der die Zeichnung an die Tafel geheftet hatte und nun rätselnd davor stand. Es waren sehr saubere Zeichnungen. Ansichten des zu fertigenden Werkstücks von allen Seiten mit reichlich für uns Handwerker notwendigen Maßangaben versehen, nur: wir entdeckten weder einen Hinweis über die Art des gelieferten Materials, noch gelang es uns die Zeichnung selbst zu deuten. Auf abstruse Weise schienen unterschiedliche Torsie ineinander verschmolzen zu sein. Wenn wir der Draufsicht rechtwinklige Kanten entnahmen, schienen diese Kanten bei den Seitenansichten abgerundet zu sein. Überhaupt glaubten wir nach einiger Zeit des Rätseln eher ein kanten freies, ein mit sanften Rundungen versehenes Werkstück anfertigen zu müssen, das uns mehr an ein abstraktes Kunstwerk erinnerte denn an ein Maschinenteil, welches anzufertigen für uns ja eine alltägliche Arbeit war. Wie zusammengewachsene Kartoffeln witzelte schließlich einer und löste damit nicht nur Heiterkeit aus. Einige machten ihrem angestauten Unmut Luft und riefen: Unverschämtheit! Wir sollten diese Arbeit ablehnen. Doch andere meinten, dass es durchaus eine interessante Aufgabe sei und wir ihr nicht gleich entsagen sollten, nur weil alles etwas ungewöhnlich sei. Ungewöhnlich! riefen die sich empörenden, wobei sie höhnisch lachten, ja, wirklich ungewöhnlich, das kann man wohl meinen! Die Mehrheit nickte aber den Fürsprechern zu und drängte sich näher an die Tafel heran. Wir diskutierten und disputierten, wir überlegten und verwarfen, bis es tatsächlich einem von uns gelang, mit für alle überzeugenden Argumenten eine Erklärung zu geben und das Werkstück zu deuten. Nachdem nunmehr schon viel Zeit verronnen war und die Sonne ihre merklich warmen Strahlen durch die Fenster strömen ließ, begaben wir uns zu unseren Werkbänken und begannen unsere Arbeit - so spät wie noch nie -, indem wir die Rohlinge in die Schraubstöcke spannten um ihnen zunächst mit der flachen Grobpfeile die grundlegende Form zu geben. Das Metall unter der eigenartigen, recht dichten, wenn auch leicht abzuraspelnden Rostschicht war bleiern grau, nur viel härter als das butterweiche Blei, wenn auch ähnlich nachgiebig zäh. Es war ein sonderbares Gefühl auf diesem Metall zu feilen. Anfangs stellten sich manche an, als sollten sie zum ersten mal ein Werkstück bearbeiten. Es schien so, als hätten sie Angst dem Rohling eine Verletzung beizufügen. Das wir trotz allem gut voran kamen und die verlorene Zeit bis zum Frühstück aufholten, versöhnte uns ein wenig, wenn auch die Freude darüber nicht lange währte. Ein neuer Streit entbrannte an den sich abzeichnenden Formen, denn Vorbehalte kamen auf ob der richtigen Auslegung der Zeichnungen. Alsbald heftig diskutierend beendeten wir unsere Frühstückspause ungewöhnlich früh um uns erneut vor der Tafel versammelt zu beraten. Und wirklich, die Argumente waren berechtigt. Doch glücklicherweise kamen wir bald überein, wie die Arbeit fortzuführen sei - noch war das Werkstück nicht verdorben. Wenn auch von nun an keine Einwände mehr erhoben wurden, eine gewisse, nicht greifbare Skepsis begleitete auch weiterhin unser Werk. Inzwischen stand die Sonne so hoch, das ihr Schein nur noch indirekt in unsere Werkstatt drang: gespiegelt von dem im Licht flimmernden Weidenlaub, von dem hellen, saftigen Grün der den Weg zur Werkstatt säumenden Wiesen, sowie von den weißgelb leuchtenden Staub auf dem Platz vor dem Tor. Und manchmal blitzte die Sonne im Gestänge des Treppengeländers zu uns in die nun dunkler erscheinende Werkstatt, wo wir vor unseren Schraubstöcken standen und schweigend arbeiteten. Ja, ungewöhnlich genug: wir schwiegen und arbeiteten jeder für sich allein. Endlich aber war Mittag und unsere Pause, der wir in der letzten halben Stunde erschöpft wie schon lange nicht mehr entgegen fieberten, verbrachten wir am Ufer des kleinen Flusses, im Schatten der Weiden. Nachdem wir uns ein wenig in der kühlenden Nähe des Wassers erholt hatten, unsere Henkelmänner geleert waren und wir nun dösend im Gras lagen, dabei den herumschwirrenden Insekten gedankenverloren lauschten, meinte plötzlich der Jüngste, er habe den Eindruck das Metall, von dem wir noch immer nicht wussten zu welcher Sorte der Metalle es gehöre, lebe. Einige kicherten albern, so als wäre etwas süffisant-peinliches gesagt worden, andere schluckten vernehmlich und riefen, als wollten sie einen Schrecken so schnell als möglich zurückdrängen, rede kein dummes Zeug! Von dem barschen Ton überrascht, ließ sich der Junge in das Gras zurück sinken und eine Weile war nur das Summen der Insekten zu hören, bis dann der Junge sich nochmals aufrichtete und mit gedämpfter Stimme fragte - so als fürchte er nochmals zu erschrecken -, ob wir denn auch die Männer gesehen hätten, gestern, als sie die Kiste brachten. Ja sicher hatten wir sie gesehen. Allen waren die Männer aufgefallen, obwohl die Lieferung in Verschwiegenheit vollzogen wurde. Jeder war von seiner Arbeit auf gemerkt um zu schauen und nicht so, wie sonst, wenn ein Lieferwagen polternd vorgefahren kam und einige von uns herausgerufen wurden um mit anzupacken, die schweren, teils klapperigen Kisten in die Werkstatt zu hieven, dass dann einige - in ihrer Arbeit vertieft - nichts von alle dem mitbekamen und später überrascht waren, entdeckten sie das neue Material. Plötzlich war der in einem matten, licht verschlingenden Schwarz gehaltene Lieferwagen vor unsere Werkstatt gestanden; zwei vornehm dunkel gekleidete Herrn mit marmorfarbenen Gesichtern entstiegen ihrem Gefährt, öffneten lautlos die beiden Flügeltüren und zogen diese Kiste heraus, um sie - bar jede Regung von Anstrengung - genau dort abzusetzen, wo wir wünschten geliefertes Material deponiert zu bekommen, ohne das auch nur irgendeiner den uns fremden Männern eine entsprechende Anweisung gegeben hatte. Und so lautlos, wie sie gekommen waren, verschwanden die beiden auch wieder. Keinem war das entgangen. Und einige knöpften sich die Hemden zu als wäre ein Eishauch durch die Werkstatt gestrichen. Ja, so hatte es sich Tags zuvor ereignet, dachten - von der Frage des Jungen daran erinnert - wohl alle. Und Junge, warum fragst du, sagte nach einer Weile der Schlüsselmann, worauf der Junge antwortete, dass er das merkwürdig gefunden habe, schon gestern mit der Kiste und - und heute...Ach was merkwürdig! wandte einer laut rufend ein, lasst uns jetzt wieder arbeiten, die Pause ist um! Stille trat ein. Nur die Bienen und Fliegen brummten durch das Gras, der dünne Wind raschelte mit dem Laub der Weiden und aus der Ferne drang leises Geläut der Dorfkirche zu uns.Wir schauten auf das alte, mit einem braunen Ziegeldach bedeckte Gebäude unserer Werkstatt, deren grober, wenn auch leicht verwitterter Sandstein im grellen Sonnenlicht leuchtete. Zögernd erhoben wir uns, dabei betont langsam unsere Kleidung von Grashalmen säubernd als warte jeder auf irgend etwas, bis dann endlich der, der die Pause für beendet erklärt hatte, ausrief, ach was, so ein albernes Zeug! und demonstrativ heftigen Schrittes auf die Werkstatt zuging, die Stufen hoch eilte und zielstrebig in das Gebäude verschwand. Wir aber standen auf der Wiese, regten uns nicht und schauten nur hinüber zu dem großen Eingang, der sich im grellen Sonnenlicht wie ein alles verschlingender Rachen dem Tag entgegen sperrte. Wir müssten ihm folgen, dachten wohl alle. Doch zögerten wir, bis endlich der Jüngste und der Schlüsselmann, ja bis wir alle uns zaudernd in Bewegung setzten und so folgten wir unserem Kollegen, langsam wie vorsichtig, so als müssten wir jeden Augenblick auf dem Absatz kehrt machen. Es drängte sich keiner durch die Tür zu gehen. Als wir aber den Vor preschenden eifrig an seinem Werkstück arbeiten sahen und dazu erleichtert feststellten, dass alles sich noch in gewohnter Ordnung befand, begaben wir uns zu unseren Plätzen, ergriffen rasch die Feile um so schnell als möglich die uns nun albern anmutenden Gefühle der vergangenen Minuten vergessen zu machen. Wir arbeiteten so schweigsam wie schon den ganzen Vormittag. Nur die schrubbenden und schabenden Geräusche unserer Feilen mischten sich mit den lebhaften Klängen einer sommerlichen Natur. Laute, in die hinein irgendwann der Schlüsselmann rief, was ist eigentlich geschehen! jedoch sogleich mit seiner Arbeit weitermachte, als wäre das gar keine Frage sondern nur ein laut gesprochener, verstreuter Gedanke gewesen. Doch der Schein der angespannten Arbeit trog. Wir beobachteten uns ganz offen, indem wir immer und immer wieder mit der Arbeit inne hielten, unseren Blick durch die Werkstatt streifen ließen, nach irgend etwas suchend, bis unsere Augen sich bei irgendeinem verfingen und sehen konnten, wie dieser Kollege nicht nur das Werkstück zart in den Händen hielt und versonnen betrachtete; wir beobachteten uns auch dabei, wie wir die Feinspäne vorsichtig zwischen die Finger nahmen und die so mit den Spänen benetzten Kuppen prüfend gegeneinander rieben, bis wir Augen auf uns gerichtet spürten und uns mit einem verschämten Lächeln eilends wieder in die Arbeit vertieften. Als dann die ersten Sonnenstrahlen zwischen dem Laub der flussabwärts stehenden Weiden durch die Fenster blinzelten - auf der anderen Seite der Werkstatt, der Abendseite, wie wir sie auch nannten - und den Raum in eine späte Helligkeit tauchten, durchbrach einer unsere mönchische Stille, indem er rief: es sei nun die Zeit mit der Präzisionsfile weiter zu arbeiten. Wir schauten auf, befühlten unser Werkstück, nickten zustimmend und setzten unsere Arbeit mit dem neuen Werkzeug fort. Der Umgang mit dieser Feile verlangt ein zartes Fingerspitzengefühl. Wenn es auch kaum zu glauben ist, bei diesem sanft anmutenden Werkzeug, aber: eins, zwei drei und schon ist zu viel ab, dann ist das Werkstück verdorben, eine Menge Arbeitszeit vertan, das Material zumeist auch für andere Aufträge unbrauchbar: also nichts als Kosten und Ärger. Doch nicht allein diese äußeren, mehr ökonomischen Gründe mahnen zur Genauigkeit: es war für uns alle ein vom Herzen quellendes Bedürfnis unseren Arbeiten die größtmögliche Genauigkeit angedeihen zu lassen, der Innung zur Ehre gereichen, dem Handwerk mit Stolz in die eigenen Fähigkeiten ergeben zu sein, kurz: an den letzten, das Werkstück vollendenden Tätigkeiten erkennt man einen Meister seines Faches! Innigste Verbundenheit mit dem Material ist geboten, jeder Strich über das Werkstück will gut angesetzt und durchgeführt sein, einer mehr wäre vielleicht schon zu viel. Und da sage einer, Metalle zu bearbeiten sei fade, es sei ja bloß leblose, kalte Materie. Nein! gestreichelt werden will es, denn nur dann vermag es seine für uns so nützlichen Eigenschaften zu entfalten. Schichtwassergebrauch macht die ehedem schon sanft zu nennende Präzisionspfeile noch glatter, so das sich das Stahl der Feile mit dem Werkstück reibt, wie zwei Körper eines sich liebenden Paares aneinander schmiegen, keinen Raum lassend für die Rohheit des Lebens. Inzwischen strömte abendliche Frische durch die Fenster und die Sonne verzauberte mit ihrem rötlichem Licht den Fluss, die Weiden und Wiesen. Wir lächelten uns zu, etwas mit Stolz, darum wissend die Arbeit bald getan zu haben und eine lockere, beschwingte, der Sorge um diese eigenartige, nun bald gelöste Aufgabe entledigte Stimmung machte sich unter uns breit; einige sangen leise vor sich hin oder pfiffen, andere besprachen wie sie den Feierabend verbringen wollten. Die am Tag unterbliebene Kollegialität stellte sich nun um so heftiger ein; wir redeten laut über dieses und jenes, versprachen uns gegenseitig bei Ausbesserungen an unseren Häusern zu helfen, wir erkundigten uns nach dem Befinden von Frau, Kinder und Verwandte; wir verabredeten einen Skatabend und alles dieses sprudelte aus uns heraus, in so kurzer Zeit und so heftig, das sich eine so ausgelassene Stimmung einstellte wie selten zuvor. Und endlich lag es vor uns, dieses sonderbare Gebilde, welches anzufertigen wir beauftragt waren. Wir hatten es eingeölt um die Rostbildung zu verhindern; nun lag es da, auf dem dicken, öligen Tuch neben dem Schraubstock. Kaum einer aber mochte das Werkstück noch länger betrachten und so legten wir rasch unser Werkzeug in die Schubläden. Wir fegten die Werkstatt aus, wir lauschten für einen Moment dem abendlichen Gesang der Vögel, wir wuschen unsere Hände und Arme unter dem kühlenden Wasser eines Krans. Und ehe wir uns versahen standen wir auf den Stufen vor der Tür, dem Schlüsselmann zuschauend, wie er mit besonderer Sorgfalt die Werkstatt verschloss um sich darauf wortlos auf sein Moped zu setzen und mit einem letzten grüßenden Blick von uns zu fahren. Unterdessen war die Nacht angebrochen und der Mond war über dem Wald aufgegangen. Wieder schweigsam geworden gaben wir uns die Hand und verabschiedeten uns voneinander. Schon ein gutes Stück des Weges gelaufen schauten sich der eine oder andere noch einmal um. Die Werkstatt lag im silbernen Licht des Mondes wie eine dunkle Trutzburg aus längst verflossener Zeit, in deren Gemäuer Geister der Unwirklichkeit wachten und ewig auf eine ferne Zukunft hofften. Wir aber gingen und kehrten nie wieder an unsere Werkbänke zurück.
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015