Eine kleine Bettgeschichte
Der Junge lag ruhig in seinem Bettchen. Er schaute auf die Tür, die sich dunkel und groß die
Wand empor fraß. Ein Ungetüm, das mit "verlassen werden" drohte. Das Kind erinnerte sich,
wie seine Mutter das Licht gelöscht hatte und dann leise in dem hellen Schein hinter der sich
schließenden Tür verschwunden war. Ohne das Kind, das in seinem Bettchen lag und
geschlafen hatte und nun Stunden später plötzlich aus diesem Schlaf geschreckt war.
Nach einigen bangen Augenblicken drehte der Junge sich zur Seite und schaute zum Fußboden
unter die Tür. Gelb leuchtete dort ein schmaler Lichtstreifen und die Furcht verlor sich. Beruhigt
kuschelte der Junge sich in das Kopfkissen und bald schon war er wieder eingeschlafen.
Es kam die Zeit, in der das Kind sich sträubte zur festgesetzten Stunde schlafen zu gehen. Nein,
es ist doch noch so früh! Mit bitten, jammern und manchen Tricks erlangte der Junge Ausnahme
um Ausnahme, bis er eines Tages in der Frühe aufstehen musste um in die Schule zu gehen.
Wie lieb war ihm gerade in dieser Stunde das Bett geworden. Wie fürchtete er sein warmes Nest
zu verlassen und sich den Zumutungen des Tages zu stellen. Aber alle Verzögerungen nutzten
nichts, er musste raus, und siehe: in den Abendstunden waren die Belastungen gemeistert wie
verwunden und das Bett erschien ihm nur zu oft wie eine Strafe, der er sich durch den Hinweise
"ich bin doch schon so groß" zu entziehen suchte.
Doch gab es auch reichlich Tage, zumal im Winter, an denen es ihm nichts machte sich ins Bett
zu legen. Nicht um zu schlafen, nein, im Gegenteil: um die verschiedensten Abenteuer zu
erleben wie sie in dieser Form nur unter einem dicken Federbett zu erleben waren. Zerrte der
Wind an dem Haus und schlug der Regen gegen die Fenster, so befand er sich plötzlich in
einem Schlafwagen des Orientexpress und durchquerte die Alpen. Auch konnte es sein, dass er
auf dem Weg über Moskau bis ans Japanische Meer war. Während er in seiner Koje lag heulten
draußen die Wölfe und finstere Gestalten in den dichten sibirischen Wäldern wichen zurück vor
dem herrischen Pfiff des heran schießenden Zuges. Ein angenehmes Gefühl aus Gruseln und
Geborgenheit überfiel ihn und langsam schlummerte er ein.
Hin und wieder aber begab er sich mit seiner Taschenlampe in tiefe und verschlungenen Höhlen
auf Entdeckungstouren; kroch und wand sich unter dem Bett, schob die Taschenlampe langsam
vor sich hin, dabei beobachtend, wie Licht und Schatten ständig wechselten und ihm die
merkwürdigsten Felsformationen verspielten. Er kroch weiter in die Höhle hinein, geriet bald ins
Schwitzen und sein heißer Atem schlug ihm von den Felswänden reflektiert entgegen; doch
wand er sich weiter und weiter, mal in diese oder jene Richtung, bis er einen Höhlenausgang
fand, am rechten oder linken Bettrand oder auch am Fußende. Kühl war die Luft dort draußen,
also kroch er schnell zurück, verscheuchte Vampire und Schlangen, entdeckte licht
verschlingende Seen und zwängte sich zwischen riesigen Stalaktiten und Stalagmiten bis er
plötzlich einen hellen Schein entdeckte: ein anderer Forscher? Er kroch dem Licht entgegen,
steckte seinen Kopf aus dem Bett und blinzelte zu seinem Vater auf, der in der Tür stand und die
Deckenlampe angeschaltet hatte: "Was ist denn Junge! Du schläfst ja immer noch nicht".
So wurde das Kind älter und wuchs. Schon lange hatte er ein anderes Bett. Ein großes für
Erwachsene, das er sich im Möbelgeschäft hatte aussuchen dürfen. Seine Oma sagte, daß sich
die Menschen früher nur einmal in ihrem Leben ein Bett kauften in denen sie die Nächte ihres
arbeitsreichen Daseins verbrachten um zur gegebenen Zeit darin zu sterben. Der Junge dachte
darüber nach und auch, ob er in einem Bett sterben würde und ob es dieses wäre, das er sich
hatte aussuchen dürfen. Diese und viele andere Fragen gingen ihm von Zeit zu Zeit durch den
Kopf.
So auch einmal in den Weihnachtsfeiern, als er jeden Tag bis kurz vor Mittag in seinem Bett lag,
halb schlafend, halb dösend, dabei beobachtend, wie es zäh unter regnerischem Himmel Tag
wurde. An seinem letzten Ferientag aber schien die Sonne und am Himmel standen kleine
weiße Wolken. Ganz ruhig hatte er in seinem Bett gelegen und zum Fenster hinüber geschaut,
durch den die Sonne goldig schien und in deren Schein Staubflusen tanzten. Alles um ihn war
ruhig und er hatte sich kaum noch gespürt. Für einen Augenblicke war es so, als schwebe er, bis
er plötzlich in der Ferne die hellen Stimmen spielende Kinder hörte. Da war er eilends aus dem
Bett gesprungen und als er draußen an der kühlen Luft in der Wintersonne stand, freute er sich.
Er freute sich, das er lebte und auf die Zukunft: auf sein ganzes langes Leben, von dem die
Erwachsenen sagten - vielleicht mit etwas Neid, das er es ja noch vor sich habe.
Und die Zeit verging.
Manchmal schämte er sich. Doch konnte er etwas dafür? Es war in ihm und wollte heraus, und
es kam in der Nacht, zumeist aber in den ersten Morgenstunden. Die Vögel erhoben zaghaft
ihren Gesang und es waren die kühlsten Stunden des Tages in jenem Sommer, während denen
sein Körper fieberte und er von wirren Träumen geschüttelt wurde. Träume, die etwas
Unangenehmes hatten und zugleich doch so süß waren; die Ungeahntes verhießen und niemals
hielten was sie zu versprechen vorgaben. Meist wachte er davon auf. Aber was war das für ein
Wachsein, das seinen Körper so schwer machte und auf seine Augenlider drückte? Oft war es
nur eine kurze Phase während der er so wachte, dabei unangenehm diese nunmehr kühle
Feuchtigkeit unter seiner Bettdecke spürte. Manchmal überwand er sich und stand auf, taumelte
wie trunken ins Badezimmer um einen Lappen zu holen. In jener Zeit bestand er darauf für sein
Bett wie überhaupt für sein Zimmer und seine Kleidung selbst verantwortlich zu sein. Seine
Eltern achtete seinen Wunsch, wenn auch zögernd und hin und wieder kontrollierend.
Der Junge wurde Mann. Wenn er spät abends, manchmal in der Nacht oder gar am frühen
Morgen, von einer Fete kommend sein Bett aufsuchte um noch ein paar Stunden zu schlafen,
wurde ihm das ein oder andere Mal bewußt wie erwachsen, selbständig und eigenverantwortlich
er geworden war. Denn das Bett war nicht mehr ein Ort der ihm gewiesen wurde. Es wurde zu
einem Symbol seiner Ungebundenheit. Er konnte es aufsuchen wann er wollte und niemand rief
ihn wieder heraus. Er musste entscheiden und verantworten ob er aufstehen wollte oder nicht.
Nur mit sich konnte er zaudern wenn er noch müde und erschlagen war von den
Ausschweifungen einer Nacht. Das Bett hatte für ihn etwas verloren von seiner schützenden
Kraft, denn die Ansprüche der Welt lagen mit ihm unter der Decke und ließen ihn weniger Ruhen
als ehemals seine mahnenden Eltern.
Viele Nächte hatte er schon in anderen Betten geschlafen. In Hotels, in Schulungsheimen, bei
Freunden und bei kleinen Liebeleien. Er hatte in seinem Schlafsack auf Campingplätzen und an
fernen Stränden beim Lagerfeuer gelegen und war dennoch immer wieder zu seinem Bett
zurückgekehrt. Doch eines Tages gab es eine Nacht, die letzte Nacht des Jahres, die er mit
Freunden in einem alten Städtchen in einer mit Girlanden verzierten Kneipe verbrachte und in
der er sie lieben lernte. Schon oft hatte er sie gesprochen und ihre Nähe ersehnt. Es wurde eine
fröhliche Nacht. Feuerwerkskörper blühten über den schiefen Dächern, die Glocken der alten
Kirchen läuteten und sie tanzten, tranken und scherzten. Irgendwann saßen sie eng
umschlungen und glücklich wie müde in einer Ecke während in einer anderen schon die Stühle
auf die Tische gehoben wurden. So verließen sie die Kneipe. Es dämmerte, die Luft war frisch
und frostig und kein Mensch war unterwegs. Nicht weit hatten sie bis zu der winzigen Wohnung
unter dem Dach eines alten Hauses, in der ein kleines Bett stand mit einem großen Teddybär
darin. Der Bär musste an jenem Morgen das Bett verlassen um ihm Platz zu machen. Doch
bevor sie sich in das Bett legten standen sie eine Weile in eine Decke gewickelt am Fenster. Sie
schauten über die Dächer und in den grauen Himmel aus dem silberner Schnee rieselte und
sich langsam in den Gassen nieder ließ. Die Glocken einer Kirche schlugen die volle Stunde
und ein Mann mit einem schwarzen Hut und einem schweren Mantel schlurfte auf dem Trottoir
seinen einsamen Weg. Als die Schritte des Mannes zwischen den Mauern verklungen waren,
wusste der junge Mann, das er das Haus seiner Eltern verlassen würde und so glücklich wie
noch nie versanken zwei Menschen in einem kleinen Bett, während ein Teddybär davor saß und
sich freute - so wie es ihm gegeben war.
Es waren ein paar schöne Jahre die verwelkten. Sie lagen in einem französischen Bett. Die
Nächte vergingen wie die Tage und die Tage waren häufig grau. Die Wohnung hatten sie
zusammen gemietet; es waren ihre gemeinsamen Möbel und sie hatten einen Trauschein. Doch
dann wachte er die eine um die andere Nacht auf, lauschte in die Dunkelheit hinein wie in eine
fremde Welt und hörte doch nur ihren Atem. Stunde um Stunde lag er reglos in der Nacht bis sie
plötzlich sagte: du bist schon lange wach. Er drehte sich zur Seite und eines Nachts sagte sie,
das sie sich trennen sollten. Und so kaufte er sich ein neues Bett.
In seiner Nachttischschublade lagen Bilder. Zeugten sie von glücklichen Tagen? Von Zeit zu Zeit
kuschelte sich ein warmer Körper unter seiner Bettdecke und fragte, ob er sie geliebt habe.
Dann nahm er dem Körper die Bilder, legte sie in die Schublade zurück und sagte, er liebe die
Börsennachrichten und der Körper lachte.
Er hatte erfolgreiche Jahre. Die Börse belohnte ihn ausgiebig, beantwortete aber seine
Sehnsucht nicht. Sein Chef konnte ihn so wenig verstehen wie seine Kollegen. Doch das hielt
ihn nicht mehr zurück und er packte einen Koffer und verkaufte sein Bett.
Sie waren ihm ja bekannt, die Betten der Hotels und Pensionen. Er wohnte hier und er wohnte
dort. Er saß in Cafés und Bars. Er traf Menschen und verbrachte mit ihnen die Tage und die
Nächte. Und ja, es ging ihm gut. Auch wenn sein Haar silbern schimmerte und dünner wurde. Er
war frei und die Welt war ihm ein großes, interessantes Dorf. Er wusste, wenn er des Morgens
die hohen Flügel der Tür zum Balkon öffnete, die Sonne ihre Gaben reichlich schenkte und das
Leben mit Autogehupe und fröhlichen Schimpfkanonaden zu ihm strömte, das er es so schlecht
nicht getroffen hatte. Es gelang ihm zu wollen, das er es so und nicht anders wußte.
Mit den Jahren aber wurden die Nächte anders. Schon lange konnte er nicht mehr in jedem Bett
Ruhe finden. Er spürte seinen Rücken, seine Beine. Es gab Nächte, die ihm mehr zur Belastung
wurden als zur Erholung. Manchmal schlief er in einem Sessel neben dem Bett. So kam es, das
er seinen Koffer auspackte und in seinen Keller schleppte. Die Wohnung war groß genug für ihn,
sie lag schön. Und sein Bett hatte eine Matratze die ihm gut tat.
Obwohl nur noch wenig geschah in seinem Leben verging die Zeit. Plötzlich, gleichsam von
heute auf morgen, war er ein alter Mann. Er lag lange im Bett und spürte das Altsein genau. Es
war nicht das Gefühl eines körperlichen Gebrechens. Er spürte es einzig und allein daran, wie er
einen neuen Tag empfand. Es war, als fände der Tag, der vor seinem Fenster dämmerte, in
einer Welt statt zu der er keinen Zugang mehr fand. So saß er im Park, schaute zum Spielplatz
hinüber und beobachtet die Hunde, wie sie ihre Geschäfte in den Sandkästen erledigten.
Sein Atem war kurz und flach; röchelnd bisweilen. Manchmal erwachte er und wenn er sich
seiner zu erinnern vermochte, spürte er einen stechenden Drang aufzustehen. Die Glieder aber
gehorchten nicht. Eine Frau kam in das Zimmer und beruhigt ihn. Sie strich die Bettdecke glatt
während er sich zurückzog um mit der langen Nacht zu flirten.
Seine Mutter sagte, das sie nicht seine Mutter sei. Aber es war sein Bett. Seine Mutter sagte zu
einer anderen Frau, er habe sein Bett wieder erkannt. Sie hatten es vom Dachboden geholt, als
er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Es stand dem Fenster gegenüber und bisweilen
meinte er, einen Vogel auf der Fensterbank hüpfen zu sehen.
Von Zeit zu Zeit stellte er sich vor, im Schlafwagenabteil der Transsibirischen Eisenbahn zu
liegen. Finstere Gestalten wichen dem gellenden Pfiff der Lok. Diese Vorstellung aber strengte
ihn an, so das aus dem wohlig Gefühl der Geborgenheit nichts wurde und nur Schwere blieb.
Dann aber hatte er einen seltsamen Traum, der unangenehm war und doch zugleich so süß: Er
sah sich als kleinen Jungen und sein Leben verhieß ihm etwas ungeahntes und schönes; doch
wie schnell war es verstrichen und ihm schien, als sei ein großes Versprechen nicht gehalten
worden.
Mit einem mal war er von hellem Licht umgeben. Er fühlte sich ganz leicht und den Menschen,
die nach ihm griffen und ihn riefen entwand er sich. Wenn er auch jetzt ertrinken sollte, so war
es doch wunderschön.
Nun war das Bett leer. Es war sauber gerichtet und würde noch lange Zeit unbenutzt in dem
kleinen Zimmer stehen. Ein paar Flusen tanzten im goldigen Schein der Wintersonne und aus
der Ferne waren leise die hellen Stimmen spielender Kinder zu hören.
(c) Klaus Dieter Schley