Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Schuld war ihre linke Hand In das kantige Gesicht von Inspektor Kromschröder stieg Farbe. Seine wulstigen Finger bewegten sich eifrig. Kommissar Maruhn schaute skeptisch zu seinem Kollegen. Wenn er den Obduktionsbericht durchgelesen hat, wird er sich über seinen Stoppelhaarschnitt streichen, dass es knistert. Und dann, wehe dem Mann, der da vollkommen in sich zusammengesunken auf dem Stuhl saß und wie erschlagen auf den Boden stierte: hilflos, unscheinbar, ganz klein. "Mhm", machte der Inspektor und strich sich über seine Stoppeln. "Wenn ich den Bericht richtig verstehe, ist die Frau heute morgen zwischen vier und fünf Uhr an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Kein Alkohol, keine Drogen. Und nicht die geringste Spur von Gewalt." Der Arzt, der neben dem Mann stand, hob seine Schultern und bejahte. Er konnte ja nichts dafür, wenn der Obduktionsbefund nicht in das Konzept der Kriminalbeamten passte. "Also Selbstmord?" fragte der Inspektor. "Schlussfolgerungen müssen Sie ziehen." "Stimmt. Das ist unsere Aufgabe." Der Arzt nickte und eilte mit wehendem Kittel davon. Inspektor Kromschröder tippte auf den Befund. "Herr Lutze, Sie haben ja gehört, was die Obduktion ergeben hat. Ihre Frau hat zu viele Tabletten geschluckt." Der Inspektor knallte den Bericht auf den Tisch. "Ich bin offen! Wenn auch nur der kleinste Kratzer zu finden gewesen wäre, dann, Herr Lutze, wäre es eindeutig Mord." Er richtete sich auf und stemmte seine Hände in die Hüften. "So aber sprechen die Indizien dagegen. Aber Ihr Verhalten, Herr Lutze, Ihr Verhalten!" Inspektor Kromschröder fuhr sich über sein knisterndes Haar. "Die Frage lautet also: wie bringt man einen erwachsenen Menschen dazu, eine große Schachtel Schlaftabletten zu schlucken?" Der dicke Zeigefinger des Inspektors schnellte dem Mann entgegen. "Es wird Zeit, dass Sie reden, Herr Lutze!" Der Mann fuhr zusammen und wurde noch kleiner. Kommissar Maruhn beugte sich ihm entgegen. Da schaute der Mann auf. "Im Bürgerpark sagten Sie?" "Ja, Herr Lutze. Ihre Frau wurde nahe dem Ehrenmal gefunden." "Meine Frau mag den Park nicht. Sie ist Malerin und hat einen sehr feinen Geschmack." Der Mann seufzte. "Sie sagt, der Park sei spießig und langweilig. Ich aber gehe gerne in dem Park spazieren." Der Mann senkte seinen Blick. "Darüber sind wir auch in Streit geraten." "Streit", fuhr der Inspektor dazwischen. "Streit war wohl kennzeichnend für Ihre Ehe. Ihre Nachbarn haben ausgesagt, daß es gestern Abend bei Ihnen hoch herging. Wieder einmal! So sah Ihre Wohnung ja auch aus, heute morgen. Im Wohnzimmer fanden wir die leere Schachtel. Sie aber waren nicht da. Unauffindbar, Herr Lutze. In Ihrer Firma fehlten Sie. Unentschuldigt, und das gerade heute, wo es um eine wichtige Sache ging. Wo waren Sie? Warum waren Sie den halben Tag verschwunden? Was ist gestern Abend ihn Ihrer Wohnung geschehen? Wie kommt Ihre Frau, den Bauch voller Tabletten, auf die andere Seite der Stadt? Und wer war der anonyme Anrufer heute Morgen um sieben Uhr? Sie, Herr Lutze, Sie haben doch angerufen!" Der Mann schaute zu Boden und schwieg. "Wie lange sind Sie verheiratet?" fragte Kommissar Maruhn. "Zweimal vier Jahre" murmelte der Mann. "Bitte?" rief der Inspektor. Kommissar Maruhn hob mäßigend seine Hand. "Vier Jahre nach unserer Hochzeit haben wir uns scheiden lassen, Herr Kommissar. Wegen unserer ständigen Streitereien. Ich hatte es schon mit dem Magen bekommen. Meine Frau konnte nicht mehr unterrichten. Sie gibt Malunterricht an der Volkshochschule. Aber nach einem Jahr haben wir wieder geheiratet. Das war vor vier Jahren." "Warum?" fragte der Inspektor. Der Mann ihm ins Gesicht. "Wir lieben uns." "Ich verstehe", sagte der Inspektor. "Ist ja logisch." "Wir lieben uns, aber wir können uns nicht vertragen", betonte der Mann. "Das ist doch nicht so ungewöhnlich." "Meinen Sie? Haben Sie ihre Frau geschlagen?" Der Mann schüttelte seinen Kopf. "Verrückt, ja theatralisch sind unsere Streits. Aber Gewalt? Nein. Deswegen ist sie ja von dem anderen wieder weggelaufen." "Dem anderen?" fragte der Kommissar. "Ja, gleich nach unsere Scheidung hatte sich meine Frau so einen Typen angelacht, der geradezu verschossen in sie war. Doch der langweilte sie schon bald." "Langweilte?" "Ja, er machte, was sie wollte. Das verträgt meine Frau nicht. Sie ist da vielleicht etwas merkwürdig. Also hat sie ihn provoziert. Er sollte ein teures Gemälde für sie kaufen. Gewissermaßen ein Liebesbeweis. Doch der Preis ging weit über die Verhältnisse des Mannes. Er kniete vor ihr und bettelte um Verständnis. Sie hat aber auf dem Bild bestanden. Plötzlich hat er sie geschlagen. Da ist sie zu mir zurückgekommen, und wir haben wieder geheiratet." "Gut. Fassen wir zusammen", sagte der Inspektor. "Ihre Frau ist tot. Selbstmord? Wenn ja, warum sind Sie davongelaufen? Warum habe Sie die Leiche in den Bürgerpark geschafft. Sie haben Sie doch heute morgen dorthin gelegt. Stimmt's?" Der Inspektor stellte sich breitbeinig neben den Mann. Kommissar Maruhn schüttelte den Kopf. "Herr Lutze. Wir verstehen ja, daß der Tod Ihrer Frau Sie mitgenommen hat. Doch Sie müssen zugeben, dass die Umstände schon etwas merkwürdig sind. Warum Ihr seltsames Verhalten?" Der Mann schwieg. Inspektor Kromschröder ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. Der Fall hatte sie nun schon den ganzen Tag beschäftigt. Inzwischen war es dunkel geworden. Kommissar Maruhn schaltete die Schreibtischlampe ein und schaute mit seinem verdammt geduldigen Blick auf diesen störrischen Typ. Vielleicht wäre es besser, ihn für eine Weile in eine Zelle zu sperren, dachte der Inspektor und schlürfte missmutig den Kaffee. Da richtete sich der Mann auf. "Ihre linke Hand ist Schuld. Es war ein Unfall. Ja, ein Unfall." Der Inspektor stellte die Tasse ab. "Unfall? Sie meinen, Ihre Frau ist in die Tablettenschachtel gefallen?" Kommissar Maruhn seufzte. "Herr Lutze, vielleicht erzählen Sie der Reihe nach. Wir haben Zeit. Was ist gestern geschehen?" Der Mann wischte seine Hände über die Oberschenkel. "Sie müssen verstehen", begann er, stockte einen Augenblick und fuhr fort: "Derzeit haben wir in meiner Firma ein Projekt, dass mich sehr beschäftigt. Gestern kam ich nach Hause und hatte den Kopf noch ganz voll. Ich wusste, um überhaupt Schlaf zu finden, würde ich eine Tablette nehmen müssen. In solchen Situationen kann ich nur schlafen, wenn ich eine Tablette genommen habe, Herr Kommissar. Meine Frau arbeitete an ihrem Bild im Wohnzimmer. Da ist das Licht besser als in ihrem Arbeitszimmer. Das ärgerte mich aber, weil das ganze Zimmer nach Farbe und Terpentin roch. Ich befürchtete, auch noch Kopfschmerzen zu bekommen. Natürlich spürte sie meine Verärgerung, und schon ging die Kabelei los. Den ganzen Abend verbrachten wir in gereizter Stimmung. Gegen halb elf wollte ich zu Bett gehen. Als ich in meine Schreibtischschublade schaute, waren die Tabletten weg. Ich war mir sicher, dass ich sie dort hineingelegt hatte. Es war eine neue Schachtel. Zuerst suchte ich eine Weile, dann aber fragte ich meine Frau. Sie antwortete nicht. Sie saß nur vor ihrem Bild und schaute stur auf die Leinwand. Für mich war das ein klarer Beweis, daß sie die Tabletten hatte. Meine Frau kann nicht lügen", sagte der Mann und schaute den Kommissar mit großen Augen an. Dann faltete er seine Hände und begann die Finger zu kneten. Plötzlich sprang er auf. Der Inspektor kam herbei, aber Kommissar Maruhn winkte ab. "Ich habe meine Frau beschuldigt, die Tabletten genommen zu haben. Ich habe ihr Vorwürfe gemacht. Ich erklärte, daß sie meine Arbeit durch dieses alberne Verhalten gefährde. Sie antwortete, dass ich unsere Ehe gefährde, dass ich ihr vor unserer Hochzeit versprochen habe, auf Alkohol und Tabletten zu verzichten. Sie müssen wissen, meine Frau kommt aus einer Familie, in der der Vater trank und die Mutter sich mit Tabletten ruiniert hatte. Deswegen hatte ich anfangs auch heimlich die Tabletten geschluckt. Bis meine Frau dahinter gekommen war." Der Mann hob beide Hände. "Natürlich mit einem Riesenkrach. Als gestern der Streit richtig los ging, war meine Frau aufgesprungen und lief durch das Zimmer. Wir schrien uns an, und das lange lockige Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie sieht dann provozierend aus. Wie ein junges wütendes Mädchen. Das macht mich immer ganz wahnsinnig." "Aha", bemerkte der Inspektor. "Sie pustete die Strähnen, die ihr vor den Augen baumelten, zur Seite. Vergeblich, denn die Haare fielen zurück. Ich lief durch unsere Wohnung, schaute und wühlte in allen Ecken, lief in die Küche, leerte den Mülleimer auf den Boden. Meine Frau rannte zeternd hinter mir her. Der Streit war voll entbrannt." "Er ging ins Theatralische", sagte der Kommissar. Der Mann nickte. "Meine Frau rief: 'Siehst du, du bist süchtig, wie du gierig bist!' Und: 'Du bist blind, vor Sucht schon ganz blind!' Sie hatte sich in äußerste Erregung gesteigert. Sie lief in mein Zimmer, zog die Schubläden heraus und verstreute überall den Inhalt. Darauf habe ich ihre Staffel umgestoßen. Die Leinwand polterte zu Boden. Meine Frau schaute zu. Sie hatte beide Fäuste geballt, ihre Haare verdeckten das Gesicht wie hinter einer Gardine. Immer wieder pustete sie. Ihre Haare flatterten auf und fielen zurück. Da riss sie das Bild meiner Eltern von der Wand und zerbrach es. Sie hatte schon oft das Bild durch die Wohnung gefeuert. Ich rief: 'Lass meine Eltern aus dem Streit!' und ging einen Schritt auf sie zu." "Und weiter?" drängte der Inspektor. "Plötzlich hatte sie die Tablettenschachtel in der Hand! Sie hielt sie hoch. 'Komm', sagte sie, 'komm doch, du alter Suchtbolzen, hohl sie dir!' Ich sagte: 'Na also, du hast sie doch. Gib schon her.' Aber sie lachte nur. Da schrie ich: 'GIB HER!' Sie aber lachte. Ein hysterisches Lachen. Sie riss die Schachtel auf und rief: 'hohl sie dir, du alter Suchtbolzen', und dann schluckte sie eine Tablette nach der anderen. Herr Kommissar, sie hielt die Schachtel mir entgegen, pflückte die Tabletten heraus und schluckte sie." Der Mann schüttelte seinen Kopf. "Ist doch grotesk. Ich stand auf meinem Platz - wie angewurzelt - und schaute ihr zu. Ich sagte: 'Lass mir eine Tablette übrig, nur eine.' Lächerlich, nicht war?" Die Beamten schwiegen. Der Mann setzte sich auf seinen Stuhl und legte sein Gesicht in die Hände. Inspektor Kromschröder wollte etwas sagen, aber der Kommissar winkte ab. Nach einer Weile schaute der Mann auf. "Es dauerte nicht lange, und die Schachtel war leer. Sie ließ sie fallen, strich sich ihre Haare aus dem Gesicht und ging lachend zum Sofa." "Und was haben Sie gemacht?" fragte der Inspektor. "Meiner Frau rutschten wieder einige Haare vors Gesicht. Sie streckte die Füße aus und pustete gegen die Strähnen wie nach einem siegreichen Kampf. Ich war - durcheinander, verwirrt. Ich hielt meiner Frau die leere Schachtel vor die Nase und rief: 'Schau, was du angerichtet hast!' Sie lachte. 'Schau, was du angerichtet hast', wiederholte sie. Ihren linken Arm hatte sie auf die Sofalehne liegen. Immer noch pustete sie gegen ihre Haare, sie hatte die Augen geschlossen und wedelte mit ihrer linken Hand. 'Na los doch, bewege dich, ruf den Arzt, oder willst du mich verrecken lassen', sagte sie und wedelte mit ihrer linken Hand. Sie hatte ihren Mund zu einem spöttisch Grinsen verzogen. Verstehen Sie, sie hat mit ihrer linken Hand gewedelt. - So abfällig!" "Ja und, was haben Sie gemacht?" bohrte der Inspektor. Der Mann wandte sich ihm zu. "Ich habe gekocht! So etwas Verrücktes. Schluckt vor meinen Augen alle Tabletten und befiehlt mir dann, ich solle den Arzt rufen. 'Geh kotzen!' rief ich. Aber sie befahl mir immer wieder, einen Arzt zu holen. Da nahm ich das Telefon und stellte es direkt vor ihre Füße. Sie aber wedelte mit ihrer linken Hand und sagte: 'Los, mach schon!' 'Nein!' habe ich gerufen. 'Du wirst selbst anrufen müssen. Kannst ihnen gleich erzählen, was für ein verrücktes Huhn du bist!' Darauf lief ich in mein Zimmer und knallte die Tür zu." "Und dann?" fragte Kommissar Maruhn. "Ich setzte mich vor den Fernseher und bin eingeschlafen." "Einfach so? Sie haben sich nicht mehr um Ihre Frau gekümmert?" Der Mann schüttelt langsam den Kopf. "Wenn sie doch nicht so mit ihrer linken Hand gewedelt hätte." "Wie lange haben Sie geschlafen?" "Bis fünf. Plötzlich bin ich aufgewacht. Ich war erst ganz benommen und klatschnass geschwitzt. Da fiel mir unser Streit ein. Sofort bin ich ins Wohnzimmer gelaufen. Sie lag noch immer auf dem Sofa. Das Telefon stand vor ihren Füßen. Erst rief ich, dann schüttelte ich sie. Ihr Körper war nicht mehr sehr warm. Sie atmete nicht. 'Tot!' schoss es mir durch den Kopf. Sie lag vor mir, eine lockige Strähne vor dem blassen Gesicht, den linken Arm lässig über die Lehne baumelnd, das Telefon zu ihren Füßen. Unberührt! Herr Kommissar. Sie hatte sich durchgesetzt. Sie hatte triumphiert. Schlagartig erwachte meine ganze Wut. Ich packte sie, ich schleifte sie in die Garage, verfrachtete sie ins Auto und fuhr los. Erst ziellos, dann direkt in den Bürgerpark. Anschließend habe ich angerufen. Und ich habe plötzlich Angst bekommen. Ich war ganz durcheinander." "Gut, Herr Lutze." Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Sie können sich denken, das wir Sie zunächst einmal hier behalten müssen." Der Mann nickte und schaute zu Boden. Inspektor Kromschröder holte den Wachbeamten herein. Als der Mann durch die Tür geführt wurde, rief der Kommissar: "Herr Lutze, eine Frage noch. Warum gerade in den Bürgerpark?" Langsam drehte sich der Mann um. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein blasses Gesicht. "Sie mochte doch diesen Park nicht, Herr Kommissar." (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Schuld war ihre linke Hand In das kantige Gesicht von Inspektor Kromschröder stieg Farbe. Seine wulstigen Finger bewegten sich eifrig. Kommissar Maruhn schaute skeptisch zu seinem Kollegen. Wenn er den Obduktionsbericht durchgelesen hat, wird er sich über seinen Stoppelhaarschnitt streichen, dass es knistert. Und dann, wehe dem Mann, der da vollkommen in sich zusammengesunken auf dem Stuhl saß und wie erschlagen auf den Boden stierte: hilflos, unscheinbar, ganz klein. "Mhm", machte der Inspektor und strich sich über seine Stoppeln. "Wenn ich den Bericht richtig verstehe, ist die Frau heute morgen zwischen vier und fünf Uhr an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Kein Alkohol, keine Drogen. Und nicht die geringste Spur von Gewalt." Der Arzt, der neben dem Mann stand, hob seine Schultern und bejahte. Er konnte ja nichts dafür, wenn der Obduktionsbefund nicht in das Konzept der Kriminalbeamten passte. "Also Selbstmord?" fragte der Inspektor. "Schlussfolgerungen müssen Sie ziehen." "Stimmt. Das ist unsere Aufgabe." Der Arzt nickte und eilte mit wehendem Kittel davon. Inspektor Kromschröder tippte auf den Befund. "Herr Lutze, Sie haben ja gehört, was die Obduktion ergeben hat. Ihre Frau hat zu viele Tabletten geschluckt." Der Inspektor knallte den Bericht auf den Tisch. "Ich bin offen! Wenn auch nur der kleinste Kratzer zu finden gewesen wäre, dann, Herr Lutze, wäre es eindeutig Mord." Er richtete sich auf und stemmte seine Hände in die Hüften. "So aber sprechen die Indizien dagegen. Aber Ihr Verhalten, Herr Lutze, Ihr Verhalten!" Inspektor Kromschröder fuhr sich über sein knisterndes Haar. "Die Frage lautet also: wie bringt man einen erwachsenen Menschen dazu, eine große Schachtel Schlaftabletten zu schlucken?" Der dicke Zeigefinger des Inspektors schnellte dem Mann entgegen. "Es wird Zeit, dass Sie reden, Herr Lutze!" Der Mann fuhr zusammen und wurde noch kleiner. Kommissar Maruhn beugte sich ihm entgegen. Da schaute der Mann auf. "Im Bürgerpark sagten Sie?" "Ja, Herr Lutze. Ihre Frau wurde nahe dem Ehrenmal gefunden." "Meine Frau mag den Park nicht. Sie ist Malerin und hat einen sehr feinen Geschmack." Der Mann seufzte. "Sie sagt, der Park sei spießig und langweilig. Ich aber gehe gerne in dem Park spazieren." Der Mann senkte seinen Blick. "Darüber sind wir auch in Streit geraten." "Streit", fuhr der Inspektor dazwischen. "Streit war wohl kennzeichnend für Ihre Ehe. Ihre Nachbarn haben ausgesagt, daß es gestern Abend bei Ihnen hoch herging. Wieder einmal! So sah Ihre Wohnung ja auch aus, heute morgen. Im Wohnzimmer fanden wir die leere Schachtel. Sie aber waren nicht da. Unauffindbar, Herr Lutze. In Ihrer Firma fehlten Sie. Unentschuldigt, und das gerade heute, wo es um eine wichtige Sache ging. Wo waren Sie? Warum waren Sie den halben Tag verschwunden? Was ist gestern Abend ihn Ihrer Wohnung geschehen? Wie kommt Ihre Frau, den Bauch voller Tabletten, auf die andere Seite der Stadt? Und wer war der anonyme Anrufer heute Morgen um sieben Uhr? Sie, Herr Lutze, Sie haben doch angerufen!" Der Mann schaute zu Boden und schwieg. "Wie lange sind Sie verheiratet?" fragte Kommissar Maruhn. "Zweimal vier Jahre" murmelte der Mann. "Bitte?" rief der Inspektor. Kommissar Maruhn hob mäßigend seine Hand. "Vier Jahre nach unserer Hochzeit haben wir uns scheiden lassen, Herr Kommissar. Wegen unserer ständigen Streitereien. Ich hatte es schon mit dem Magen bekommen. Meine Frau konnte nicht mehr unterrichten. Sie gibt Malunterricht an der Volkshochschule. Aber nach einem Jahr haben wir wieder geheiratet. Das war vor vier Jahren." "Warum?" fragte der Inspektor. Der Mann ihm ins Gesicht. "Wir lieben uns." "Ich verstehe", sagte der Inspektor. "Ist ja logisch." "Wir lieben uns, aber wir können uns nicht vertragen", betonte der Mann. "Das ist doch nicht so ungewöhnlich." "Meinen Sie? Haben Sie ihre Frau geschlagen?" Der Mann schüttelte seinen Kopf. "Verrückt, ja theatralisch sind unsere Streits. Aber Gewalt? Nein. Deswegen ist sie ja von dem anderen wieder weggelaufen." "Dem anderen?" fragte der Kommissar. "Ja, gleich nach unsere Scheidung hatte sich meine Frau so einen Typen angelacht, der geradezu verschossen in sie war. Doch der langweilte sie schon bald." "Langweilte?" "Ja, er machte, was sie wollte. Das verträgt meine Frau nicht. Sie ist da vielleicht etwas merkwürdig. Also hat sie ihn provoziert. Er sollte ein teures Gemälde für sie kaufen. Gewissermaßen ein Liebesbeweis. Doch der Preis ging weit über die Verhältnisse des Mannes. Er kniete vor ihr und bettelte um Verständnis. Sie hat aber auf dem Bild bestanden. Plötzlich hat er sie geschlagen. Da ist sie zu mir zurückgekommen, und wir haben wieder geheiratet." "Gut. Fassen wir zusammen", sagte der Inspektor. "Ihre Frau ist tot. Selbstmord? Wenn ja, warum sind Sie davongelaufen? Warum habe Sie die Leiche in den Bürgerpark geschafft. Sie haben Sie doch heute morgen dorthin gelegt. Stimmt's?" Der Inspektor stellte sich breitbeinig neben den Mann. Kommissar Maruhn schüttelte den Kopf. "Herr Lutze. Wir verstehen ja, daß der Tod Ihrer Frau Sie mitgenommen hat. Doch Sie müssen zugeben, dass die Umstände schon etwas merkwürdig sind. Warum Ihr seltsames Verhalten?" Der Mann schwieg. Inspektor Kromschröder ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. Der Fall hatte sie nun schon den ganzen Tag beschäftigt. Inzwischen war es dunkel geworden. Kommissar Maruhn schaltete die Schreibtischlampe ein und schaute mit seinem verdammt geduldigen Blick auf diesen störrischen Typ. Vielleicht wäre es besser, ihn für eine Weile in eine Zelle zu sperren, dachte der Inspektor und schlürfte missmutig den Kaffee. Da richtete sich der Mann auf. "Ihre linke Hand ist Schuld. Es war ein Unfall. Ja, ein Unfall." Der Inspektor stellte die Tasse ab. "Unfall? Sie meinen, Ihre Frau ist in die Tablettenschachtel gefallen?" Kommissar Maruhn seufzte. "Herr Lutze, vielleicht erzählen Sie der Reihe nach. Wir haben Zeit. Was ist gestern geschehen?" Der Mann wischte seine Hände über die Oberschenkel. "Sie müssen verstehen", begann er, stockte einen Augenblick und fuhr fort: "Derzeit haben wir in meiner Firma ein Projekt, dass mich sehr beschäftigt. Gestern kam ich nach Hause und hatte den Kopf noch ganz voll. Ich wusste, um überhaupt Schlaf zu finden, würde ich eine Tablette nehmen müssen. In solchen Situationen kann ich nur schlafen, wenn ich eine Tablette genommen habe, Herr Kommissar. Meine Frau arbeitete an ihrem Bild im Wohnzimmer. Da ist das Licht besser als in ihrem Arbeitszimmer. Das ärgerte mich aber, weil das ganze Zimmer nach Farbe und Terpentin roch. Ich befürchtete, auch noch Kopfschmerzen zu bekommen. Natürlich spürte sie meine Verärgerung, und schon ging die Kabelei los. Den ganzen Abend verbrachten wir in gereizter Stimmung. Gegen halb elf wollte ich zu Bett gehen. Als ich in meine Schreibtischschublade schaute, waren die Tabletten weg. Ich war mir sicher, dass ich sie dort hineingelegt hatte. Es war eine neue Schachtel. Zuerst suchte ich eine Weile, dann aber fragte ich meine Frau. Sie antwortete nicht. Sie saß nur vor ihrem Bild und schaute stur auf die Leinwand. Für mich war das ein klarer Beweis, daß sie die Tabletten hatte. Meine Frau kann nicht lügen", sagte der Mann und schaute den Kommissar mit großen Augen an. Dann faltete er seine Hände und begann die Finger zu kneten. Plötzlich sprang er auf. Der Inspektor kam herbei, aber Kommissar Maruhn winkte ab. "Ich habe meine Frau beschuldigt, die Tabletten genommen zu haben. Ich habe ihr Vorwürfe gemacht. Ich erklärte, daß sie meine Arbeit durch dieses alberne Verhalten gefährde. Sie antwortete, dass ich unsere Ehe gefährde, dass ich ihr vor unserer Hochzeit versprochen habe, auf Alkohol und Tabletten zu verzichten. Sie müssen wissen, meine Frau kommt aus einer Familie, in der der Vater trank und die Mutter sich mit Tabletten ruiniert hatte. Deswegen hatte ich anfangs auch heimlich die Tabletten geschluckt. Bis meine Frau dahinter gekommen war." Der Mann hob beide Hände. "Natürlich mit einem Riesenkrach. Als gestern der Streit richtig los ging, war meine Frau aufgesprungen und lief durch das Zimmer. Wir schrien uns an, und das lange lockige Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie sieht dann provozierend aus. Wie ein junges wütendes Mädchen. Das macht mich immer ganz wahnsinnig." "Aha", bemerkte der Inspektor. "Sie pustete die Strähnen, die ihr vor den Augen baumelten, zur Seite. Vergeblich, denn die Haare fielen zurück. Ich lief durch unsere Wohnung, schaute und wühlte in allen Ecken, lief in die Küche, leerte den Mülleimer auf den Boden. Meine Frau rannte zeternd hinter mir her. Der Streit war voll entbrannt." "Er ging ins Theatralische", sagte der Kommissar. Der Mann nickte. "Meine Frau rief: 'Siehst du, du bist süchtig, wie du gierig bist!' Und: 'Du bist blind, vor Sucht schon ganz blind!' Sie hatte sich in äußerste Erregung gesteigert. Sie lief in mein Zimmer, zog die Schubläden heraus und verstreute überall den Inhalt. Darauf habe ich ihre Staffel umgestoßen. Die Leinwand polterte zu Boden. Meine Frau schaute zu. Sie hatte beide Fäuste geballt, ihre Haare verdeckten das Gesicht wie hinter einer Gardine. Immer wieder pustete sie. Ihre Haare flatterten auf und fielen zurück. Da riss sie das Bild meiner Eltern von der Wand und zerbrach es. Sie hatte schon oft das Bild durch die Wohnung gefeuert. Ich rief: 'Lass meine Eltern aus dem Streit!' und ging einen Schritt auf sie zu." "Und weiter?" drängte der Inspektor. "Plötzlich hatte sie die Tablettenschachtel in der Hand! Sie hielt sie hoch. 'Komm', sagte sie, 'komm doch, du alter Suchtbolzen, hohl sie dir!' Ich sagte: 'Na also, du hast sie doch. Gib schon her.' Aber sie lachte nur. Da schrie ich: 'GIB HER!' Sie aber lachte. Ein hysterisches Lachen. Sie riss die Schachtel auf und rief: 'hohl sie dir, du alter Suchtbolzen', und dann schluckte sie eine Tablette nach der anderen. Herr Kommissar, sie hielt die Schachtel mir entgegen, pflückte die Tabletten heraus und schluckte sie." Der Mann schüttelte seinen Kopf. "Ist doch grotesk. Ich stand auf meinem Platz - wie angewurzelt - und schaute ihr zu. Ich sagte: 'Lass mir eine Tablette übrig, nur eine.' Lächerlich, nicht war?" Die Beamten schwiegen. Der Mann setzte sich auf seinen Stuhl und legte sein Gesicht in die Hände. Inspektor Kromschröder wollte etwas sagen, aber der Kommissar winkte ab. Nach einer Weile schaute der Mann auf. "Es dauerte nicht lange, und die Schachtel war leer. Sie ließ sie fallen, strich sich ihre Haare aus dem Gesicht und ging lachend zum Sofa." "Und was haben Sie gemacht?" fragte der Inspektor. "Meiner Frau rutschten wieder einige Haare vors Gesicht. Sie streckte die Füße aus und pustete gegen die Strähnen wie nach einem siegreichen Kampf. Ich war - durcheinander, verwirrt. Ich hielt meiner Frau die leere Schachtel vor die Nase und rief: 'Schau, was du angerichtet hast!' Sie lachte. 'Schau, was du angerichtet hast', wiederholte sie. Ihren linken Arm hatte sie auf die Sofalehne liegen. Immer noch pustete sie gegen ihre Haare, sie hatte die Augen geschlossen und wedelte mit ihrer linken Hand. 'Na los doch, bewege dich, ruf den Arzt, oder willst du mich verrecken lassen', sagte sie und wedelte mit ihrer linken Hand. Sie hatte ihren Mund zu einem spöttisch Grinsen verzogen. Verstehen Sie, sie hat mit ihrer linken Hand gewedelt. - So abfällig!" "Ja und, was haben Sie gemacht?" bohrte der Inspektor. Der Mann wandte sich ihm zu. "Ich habe gekocht! So etwas Verrücktes. Schluckt vor meinen Augen alle Tabletten und befiehlt mir dann, ich solle den Arzt rufen. 'Geh kotzen!' rief ich. Aber sie befahl mir immer wieder, einen Arzt zu holen. Da nahm ich das Telefon und stellte es direkt vor ihre Füße. Sie aber wedelte mit ihrer linken Hand und sagte: 'Los, mach schon!' 'Nein!' habe ich gerufen. 'Du wirst selbst anrufen müssen. Kannst ihnen gleich erzählen, was für ein verrücktes Huhn du bist!' Darauf lief ich in mein Zimmer und knallte die Tür zu." "Und dann?" fragte Kommissar Maruhn. "Ich setzte mich vor den Fernseher und bin eingeschlafen." "Einfach so? Sie haben sich nicht mehr um Ihre Frau gekümmert?" Der Mann schüttelt langsam den Kopf. "Wenn sie doch nicht so mit ihrer linken Hand gewedelt hätte." "Wie lange haben Sie geschlafen?" "Bis fünf. Plötzlich bin ich aufgewacht. Ich war erst ganz benommen und klatschnass geschwitzt. Da fiel mir unser Streit ein. Sofort bin ich ins Wohnzimmer gelaufen. Sie lag noch immer auf dem Sofa. Das Telefon stand vor ihren Füßen. Erst rief ich, dann schüttelte ich sie. Ihr Körper war nicht mehr sehr warm. Sie atmete nicht. 'Tot!' schoss es mir durch den Kopf. Sie lag vor mir, eine lockige Strähne vor dem blassen Gesicht, den linken Arm lässig über die Lehne baumelnd, das Telefon zu ihren Füßen. Unberührt! Herr Kommissar. Sie hatte sich durchgesetzt. Sie hatte triumphiert. Schlagartig erwachte meine ganze Wut. Ich packte sie, ich schleifte sie in die Garage, verfrachtete sie ins Auto und fuhr los. Erst ziellos, dann direkt in den Bürgerpark. Anschließend habe ich angerufen. Und ich habe plötzlich Angst bekommen. Ich war ganz durcheinander." "Gut, Herr Lutze." Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Sie können sich denken, das wir Sie zunächst einmal hier behalten müssen." Der Mann nickte und schaute zu Boden. Inspektor Kromschröder holte den Wachbeamten herein. Als der Mann durch die Tür geführt wurde, rief der Kommissar: "Herr Lutze, eine Frage noch. Warum gerade in den Bürgerpark?" Langsam drehte sich der Mann um. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein blasses Gesicht. "Sie mochte doch diesen Park nicht, Herr Kommissar." (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015