Schuld war ihre linke Hand
In das kantige Gesicht von Inspektor Kromschröder stieg Farbe. Seine wulstigen Finger bewegten
sich eifrig. Kommissar Maruhn schaute skeptisch zu seinem Kollegen. Wenn er den
Obduktionsbericht durchgelesen hat, wird er sich über seinen Stoppelhaarschnitt streichen, dass es
knistert. Und dann, wehe dem Mann, der da vollkommen in sich zusammengesunken auf dem Stuhl
saß und wie erschlagen auf den Boden stierte: hilflos, unscheinbar, ganz klein.
"Mhm", machte der Inspektor und strich sich über seine Stoppeln.
"Wenn ich den Bericht richtig verstehe, ist die Frau heute morgen zwischen vier und fünf Uhr an
einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Kein Alkohol, keine Drogen. Und nicht die geringste
Spur von Gewalt."
Der Arzt, der neben dem Mann stand, hob seine Schultern und bejahte. Er konnte ja nichts dafür,
wenn der Obduktionsbefund nicht in das Konzept der Kriminalbeamten passte.
"Also Selbstmord?" fragte der Inspektor.
"Schlussfolgerungen müssen Sie ziehen."
"Stimmt. Das ist unsere Aufgabe."
Der Arzt nickte und eilte mit wehendem Kittel davon. Inspektor Kromschröder tippte auf den Befund.
"Herr Lutze, Sie haben ja gehört, was die Obduktion ergeben hat. Ihre Frau hat zu viele Tabletten
geschluckt."
Der Inspektor knallte den Bericht auf den Tisch.
"Ich bin offen! Wenn auch nur der kleinste Kratzer zu finden gewesen wäre, dann, Herr Lutze, wäre
es eindeutig Mord."
Er richtete sich auf und stemmte seine Hände in die Hüften.
"So aber sprechen die Indizien dagegen. Aber Ihr Verhalten, Herr Lutze, Ihr Verhalten!"
Inspektor Kromschröder fuhr sich über sein knisterndes Haar.
"Die Frage lautet also: wie bringt man einen erwachsenen Menschen dazu, eine große Schachtel
Schlaftabletten zu schlucken?" Der dicke Zeigefinger des Inspektors schnellte dem Mann entgegen.
"Es wird Zeit, dass Sie reden, Herr Lutze!"
Der Mann fuhr zusammen und wurde noch kleiner. Kommissar Maruhn beugte sich ihm entgegen.
Da schaute der Mann auf.
"Im Bürgerpark sagten Sie?"
"Ja, Herr Lutze. Ihre Frau wurde nahe dem Ehrenmal gefunden."
"Meine Frau mag den Park nicht. Sie ist Malerin und hat einen sehr feinen Geschmack." Der Mann
seufzte. "Sie sagt, der Park sei spießig und langweilig. Ich aber gehe gerne in dem Park spazieren."
Der Mann senkte seinen Blick.
"Darüber sind wir auch in Streit geraten."
"Streit", fuhr der Inspektor dazwischen. "Streit war wohl kennzeichnend für Ihre Ehe. Ihre Nachbarn
haben ausgesagt, daß es gestern Abend bei Ihnen hoch herging. Wieder einmal! So sah Ihre
Wohnung ja auch aus, heute morgen. Im Wohnzimmer fanden wir die leere Schachtel. Sie aber
waren nicht da. Unauffindbar, Herr Lutze. In Ihrer Firma fehlten Sie. Unentschuldigt, und das
gerade heute, wo es um eine wichtige Sache ging. Wo waren Sie? Warum waren Sie den halben
Tag verschwunden? Was ist gestern Abend ihn Ihrer Wohnung geschehen? Wie kommt Ihre Frau,
den Bauch voller Tabletten, auf die andere Seite der Stadt? Und wer war der anonyme Anrufer
heute Morgen um sieben Uhr? Sie, Herr Lutze, Sie haben doch angerufen!"
Der Mann schaute zu Boden und schwieg.
"Wie lange sind Sie verheiratet?" fragte Kommissar Maruhn.
"Zweimal vier Jahre" murmelte der Mann.
"Bitte?" rief der Inspektor.
Kommissar Maruhn hob mäßigend seine Hand.
"Vier Jahre nach unserer Hochzeit haben wir uns scheiden lassen, Herr Kommissar. Wegen
unserer ständigen Streitereien. Ich hatte es schon mit dem Magen bekommen. Meine Frau konnte
nicht mehr unterrichten. Sie gibt Malunterricht an der Volkshochschule. Aber nach einem Jahr
haben wir wieder geheiratet. Das war vor vier Jahren."
"Warum?" fragte der Inspektor. Der Mann ihm ins Gesicht.
"Wir lieben uns."
"Ich verstehe", sagte der Inspektor. "Ist ja logisch."
"Wir lieben uns, aber wir können uns nicht vertragen", betonte der Mann. "Das ist doch nicht so
ungewöhnlich."
"Meinen Sie? Haben Sie ihre Frau geschlagen?"
Der Mann schüttelte seinen Kopf. "Verrückt, ja theatralisch sind unsere Streits. Aber Gewalt? Nein.
Deswegen ist sie ja von dem anderen wieder weggelaufen."
"Dem anderen?" fragte der Kommissar.
"Ja, gleich nach unsere Scheidung hatte sich meine Frau so einen Typen angelacht, der geradezu
verschossen in sie war. Doch der langweilte sie schon bald."
"Langweilte?"
"Ja, er machte, was sie wollte. Das verträgt meine Frau nicht. Sie ist da vielleicht etwas
merkwürdig. Also hat sie ihn provoziert. Er sollte ein teures Gemälde für sie kaufen.
Gewissermaßen ein Liebesbeweis. Doch der Preis ging weit über die Verhältnisse des Mannes. Er
kniete vor ihr und bettelte um Verständnis. Sie hat aber auf dem Bild bestanden. Plötzlich hat er sie
geschlagen. Da ist sie zu mir zurückgekommen, und wir haben wieder geheiratet."
"Gut. Fassen wir zusammen", sagte der Inspektor. "Ihre
Frau ist tot. Selbstmord? Wenn ja, warum sind Sie davongelaufen? Warum habe Sie die Leiche in
den Bürgerpark geschafft. Sie haben Sie doch heute morgen dorthin gelegt. Stimmt's?"
Der Inspektor stellte sich breitbeinig neben den Mann. Kommissar Maruhn schüttelte den Kopf.
"Herr Lutze. Wir verstehen ja, daß der Tod Ihrer Frau Sie mitgenommen hat. Doch Sie müssen
zugeben, dass die Umstände schon etwas merkwürdig sind. Warum Ihr seltsames Verhalten?"
Der Mann schwieg. Inspektor Kromschröder ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse
ein. Der Fall hatte sie nun schon den ganzen Tag beschäftigt. Inzwischen war es dunkel geworden.
Kommissar Maruhn schaltete die Schreibtischlampe ein und schaute mit seinem verdammt
geduldigen Blick auf diesen störrischen Typ.
Vielleicht wäre es besser, ihn für eine Weile in eine Zelle zu sperren, dachte der Inspektor und
schlürfte missmutig den Kaffee. Da richtete sich der Mann auf.
"Ihre linke Hand ist Schuld. Es war ein Unfall. Ja, ein Unfall."
Der Inspektor stellte die Tasse ab.
"Unfall? Sie meinen, Ihre Frau ist in die Tablettenschachtel gefallen?"
Kommissar Maruhn seufzte.
"Herr Lutze, vielleicht erzählen Sie der Reihe nach. Wir haben Zeit. Was ist gestern geschehen?"
Der Mann wischte seine Hände über die Oberschenkel.
"Sie müssen verstehen", begann er, stockte einen Augenblick und fuhr fort:
"Derzeit haben wir in meiner Firma ein Projekt, dass mich sehr beschäftigt. Gestern kam ich nach
Hause und hatte den Kopf noch ganz voll. Ich wusste, um überhaupt Schlaf zu finden, würde ich
eine Tablette nehmen müssen. In solchen Situationen kann ich nur schlafen, wenn ich eine Tablette
genommen habe, Herr Kommissar. Meine Frau arbeitete an ihrem Bild im Wohnzimmer. Da ist das
Licht besser als in ihrem Arbeitszimmer. Das ärgerte mich aber, weil das ganze Zimmer nach Farbe
und Terpentin roch. Ich befürchtete, auch noch Kopfschmerzen zu bekommen. Natürlich spürte sie
meine Verärgerung, und schon ging die Kabelei los. Den ganzen Abend verbrachten wir in gereizter
Stimmung. Gegen halb elf wollte ich zu Bett gehen. Als ich in meine Schreibtischschublade
schaute, waren die Tabletten weg. Ich war mir sicher, dass ich sie dort hineingelegt hatte. Es war
eine neue Schachtel. Zuerst suchte ich eine Weile, dann aber fragte ich meine Frau. Sie antwortete
nicht. Sie saß nur vor ihrem Bild und schaute stur auf die Leinwand. Für mich war das ein klarer
Beweis, daß sie die Tabletten hatte. Meine Frau kann nicht lügen", sagte der Mann und schaute
den Kommissar mit großen Augen an. Dann faltete er seine Hände und begann die Finger zu
kneten. Plötzlich sprang er auf. Der Inspektor kam herbei, aber Kommissar Maruhn winkte ab.
"Ich habe meine Frau beschuldigt, die Tabletten genommen zu haben. Ich habe ihr Vorwürfe
gemacht. Ich erklärte, daß sie meine Arbeit durch dieses alberne Verhalten gefährde. Sie
antwortete, dass ich unsere Ehe gefährde, dass ich ihr vor unserer Hochzeit versprochen habe, auf
Alkohol und Tabletten zu verzichten. Sie müssen wissen, meine Frau kommt aus einer Familie, in
der der Vater trank und die Mutter sich mit Tabletten ruiniert hatte. Deswegen hatte ich anfangs
auch heimlich die Tabletten geschluckt. Bis meine Frau dahinter gekommen war." Der Mann hob
beide Hände.
"Natürlich mit einem Riesenkrach. Als gestern der Streit richtig los ging, war meine Frau
aufgesprungen und lief durch das Zimmer. Wir schrien uns an, und das lange lockige Haar fiel ihr
ins Gesicht. Sie sieht dann provozierend aus. Wie ein junges wütendes Mädchen. Das macht mich
immer ganz wahnsinnig."
"Aha", bemerkte der Inspektor.
"Sie pustete die Strähnen, die ihr vor den Augen baumelten, zur Seite. Vergeblich, denn die Haare
fielen zurück. Ich lief durch unsere Wohnung, schaute und wühlte in allen Ecken, lief in die Küche,
leerte den Mülleimer auf den Boden. Meine Frau rannte zeternd hinter mir her. Der Streit war voll
entbrannt."
"Er ging ins Theatralische", sagte der Kommissar.
Der Mann nickte.
"Meine Frau rief: 'Siehst du, du bist süchtig, wie du gierig bist!' Und: 'Du bist blind, vor Sucht schon
ganz blind!' Sie hatte sich in äußerste Erregung gesteigert. Sie lief in mein Zimmer, zog die
Schubläden heraus und verstreute überall den Inhalt. Darauf habe ich ihre Staffel umgestoßen. Die
Leinwand polterte zu Boden. Meine Frau schaute zu. Sie hatte beide Fäuste geballt, ihre Haare
verdeckten das Gesicht wie hinter einer Gardine. Immer wieder pustete sie. Ihre Haare flatterten
auf und fielen zurück. Da riss sie das Bild meiner Eltern von der Wand und zerbrach es. Sie hatte
schon oft das Bild durch die Wohnung gefeuert. Ich rief: 'Lass meine Eltern aus dem Streit!' und
ging einen Schritt auf sie zu."
"Und weiter?" drängte der Inspektor.
"Plötzlich hatte sie die Tablettenschachtel in der Hand! Sie hielt sie hoch. 'Komm', sagte sie, 'komm
doch, du alter Suchtbolzen, hohl sie dir!' Ich sagte: 'Na also, du hast sie doch. Gib schon her.' Aber
sie lachte nur. Da schrie ich: 'GIB HER!' Sie aber lachte. Ein hysterisches Lachen. Sie riss die
Schachtel auf und rief: 'hohl sie dir, du alter Suchtbolzen', und dann schluckte sie eine Tablette
nach der anderen. Herr Kommissar, sie hielt die Schachtel mir entgegen, pflückte die Tabletten
heraus und schluckte sie."
Der Mann schüttelte seinen Kopf.
"Ist doch grotesk. Ich stand auf meinem Platz - wie angewurzelt - und schaute ihr zu. Ich sagte:
'Lass mir eine Tablette übrig, nur eine.' Lächerlich, nicht war?"
Die Beamten schwiegen. Der Mann setzte sich auf seinen Stuhl und legte sein Gesicht in die
Hände. Inspektor Kromschröder wollte etwas sagen, aber der Kommissar winkte ab. Nach einer
Weile schaute der Mann auf.
"Es dauerte nicht lange, und die Schachtel war leer. Sie ließ sie fallen, strich sich ihre Haare aus
dem Gesicht und ging lachend zum Sofa."
"Und was haben Sie gemacht?" fragte der Inspektor.
"Meiner Frau rutschten wieder einige Haare vors Gesicht. Sie streckte die Füße aus und pustete
gegen die Strähnen wie nach einem siegreichen Kampf. Ich war - durcheinander, verwirrt. Ich hielt
meiner Frau die leere Schachtel vor die Nase und rief: 'Schau, was du angerichtet hast!' Sie lachte.
'Schau, was du angerichtet hast', wiederholte sie. Ihren linken Arm hatte sie auf die Sofalehne
liegen. Immer noch pustete sie gegen ihre Haare, sie hatte die Augen geschlossen und wedelte mit
ihrer linken Hand. 'Na los doch, bewege dich, ruf den Arzt, oder willst du mich verrecken lassen',
sagte sie und wedelte mit ihrer linken Hand. Sie hatte ihren Mund zu einem spöttisch Grinsen
verzogen. Verstehen Sie, sie hat mit ihrer linken Hand gewedelt. - So abfällig!"
"Ja und, was haben Sie gemacht?" bohrte der Inspektor. Der Mann wandte sich ihm zu.
"Ich habe gekocht! So etwas Verrücktes. Schluckt vor meinen Augen alle Tabletten und befiehlt mir
dann, ich solle den Arzt rufen. 'Geh kotzen!' rief ich. Aber sie befahl mir immer wieder, einen Arzt zu
holen. Da nahm ich das Telefon und stellte es direkt vor ihre Füße. Sie aber wedelte mit ihrer linken
Hand und sagte: 'Los, mach schon!' 'Nein!' habe ich gerufen. 'Du wirst selbst anrufen müssen.
Kannst ihnen gleich erzählen, was für ein verrücktes Huhn du bist!' Darauf lief ich in mein Zimmer
und knallte die Tür zu."
"Und dann?" fragte Kommissar Maruhn.
"Ich setzte mich vor den Fernseher und bin eingeschlafen."
"Einfach so? Sie haben sich nicht mehr um Ihre Frau gekümmert?"
Der Mann schüttelt langsam den Kopf.
"Wenn sie doch nicht so mit ihrer linken Hand gewedelt hätte."
"Wie lange haben Sie geschlafen?"
"Bis fünf. Plötzlich bin ich aufgewacht. Ich war erst ganz benommen und klatschnass geschwitzt.
Da fiel mir unser Streit ein. Sofort bin ich ins Wohnzimmer gelaufen. Sie lag noch immer auf dem
Sofa. Das Telefon stand vor ihren Füßen. Erst rief ich, dann schüttelte ich sie. Ihr Körper war nicht
mehr sehr warm. Sie atmete nicht. 'Tot!' schoss es mir durch den Kopf. Sie lag vor mir, eine lockige
Strähne vor dem blassen Gesicht, den linken Arm lässig über die Lehne baumelnd, das Telefon zu
ihren Füßen. Unberührt! Herr Kommissar. Sie hatte sich durchgesetzt. Sie hatte triumphiert.
Schlagartig erwachte meine ganze Wut. Ich packte sie, ich schleifte sie in die Garage, verfrachtete
sie ins Auto und fuhr los. Erst ziellos, dann direkt in den Bürgerpark. Anschließend habe ich
angerufen. Und ich habe plötzlich Angst bekommen. Ich war ganz durcheinander."
"Gut, Herr Lutze."
Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Sie können sich denken, das wir Sie zunächst einmal hier behalten müssen."
Der Mann nickte und schaute zu Boden. Inspektor Kromschröder holte den Wachbeamten herein.
Als der Mann durch die Tür geführt wurde, rief der Kommissar:
"Herr Lutze, eine Frage noch. Warum gerade in den Bürgerpark?"
Langsam drehte sich der Mann um. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein blasses
Gesicht.
"Sie mochte doch diesen Park nicht, Herr Kommissar."
(c) Klaus Dieter Schley