Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
In einer Welt mit wenigen Sternen Fast geräuschlos glitt der letzte Zug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen jungen Mann. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden und schon bald von der Dunkelheit aufgesaugt waren. Der Mann ging zum Ausgang. Seine Schritte durch den menschenleeren Bahnhof waren von berechneter Gleichmäßigkeit. Im Licht der Lampen schimmerte sein Gesicht als sei es aus Wachs. Der Mann warf die Zigarette auf die kleinen schwarzweiß karierten Fliesen und schaute hoch zur gläsernen Kuppel der Halle. Schwarze Vögel mit grob zerfransten Flügeln lösten sich aus den Streben und schwebten dicht unterhalb der Kuppel. Von Zeit zu Zeit stießen sie schrille Schreie aus. Das blasse Gesicht des Mannes entließ ein Lächeln und seine blauen Augen funkelten. Er wandte sich zur Tür hinter der sich die dunkle Silhouette einer großen Stadt abzeichnete. Der Himmel darüber war schwarz und zeigte nur wenige Sterne. Langsam, einen langen Schatten hinter sich her schleppend, ging der Mann hinaus in die einsame Nacht. An dieser Stelle blieb das Bild stehen. Es verging eine Weile bis die Frau dem großen pausbäckigen Jungen anerkennend auf die Schulter klopfte. Sein Gesicht bekam Farbe. Eine lange Strähne seines urwüchsigen rotblonden Haares fiel ihm vor die Augen. Er tippte ein paar Ziffern in den Computer, worauf das Bild von einer blauen Fläche überschrieben wurde. Fordernd blinkte der Cursor in der linken unteren Ecke. "Wie gefällt es dir?" fragte der Junge. Die Frau ging langsam zum Sessel hinüber, der - umgeben von Computerbücher, Diskettenboxen und Bildschirmen - in einer Ecke der Dachkammer stand. Einen Augenblick schaute sie in das Gesicht des Jungen, dessen lebenshungrige Augen auf sie gerichtet waren. Dann schaute sie durch das Dachfenster in die Nacht. "Die Sterne dieses Himmels wären leicht zu zählen", dachte sie. "Ich will hier raus", rief plötzlich der Junge. "Du bist aber nicht der Einzige", antwortete die Frau. Der Junge schüttelte den Kopf, so dass eine Haarsträhne über seine Nasenspitze strich. "Mein Programm ist aber das Beste!" "Mag sein", sagte die Frau und zupfte Flusen von ihrem roten Kleid. "Jede kleinste Veränderung des ersten Bildes löst also eine andere Geschichte aus?" fragte sie. Der Junge nickte. "Anstelle einer Zigarette könnte der Mann auch einen Kaugummi auspacken. Oder er könnte einen Blumenstrauß in der Hand halten. Der Computer beachtet diese Details und erstellt dann womöglich eine ganz andere Geschichte." "Womöglich?" "Ja sicher!" begeisterte sich der Junge. "Das ist es doch gerade! Der Computer besitzt die Fähigkeit nahezu unendlich viele Verknüpfungen zu berechnen. Es ist nicht vorhersagbar was geschieht. Die Geschichte kann ganz banal verlaufen. Sie kann spannend werden oder ins Phantastische abgleiten. Alles wie im richtigen Leben!" "Der Mann auf dem Bahnsteig könnte auch ein rundes, pausbäckiges Gesicht haben?" fragte die Frau. Der Junge schaute schweigend auf den Fußboden. "Du hast noch andere Bilder?" "Ja", flüsterte der Junge, "ein spielendes Kind auf einem Dachboden. Einen Jungen, der mit dem Fernrohr in den Nachthimmel schaut. Einen jungen Mann..." "Das sind alles Motive aus deinem Leben, nicht wahr?" Der Junge richtete sich auf. "Woher denn sonst?" Die Frau atmete tief durch. "Ich will hier raus!" rief der Junge. "Ja, ich weiß", sagte die Frau. "Ich versuche auch alles. Aber dort ist eine ganz andere Welt..." "Wirklich? So ganz anders?" Die Frau betrachtete nachdenklich den Bildschirm des Computers. "Ganz anders - und auch wiederum nicht." Der Junge beobachtete mit offenem Mund die Frau. Dann sagte er: "Ich habe dir immer vertraut." "Dessen bin ich mir bewusst." Die Frau schaute sich in dem Zimmer um. "Aber du weist ja, daß es zwischen hier und der Wirklichkeit einen Unterschied gibt. Und selbst durch ein noch so gutes Programm ist dieser Unterschied nicht aufzuheben." Der Junge strich sich die Strähne aus dem Gesicht und schaute auf den blinkenden Cursor. "Es wird Zeit", sagte die Frau nach einer Weile und stand mit einem Ruck auf. "Gleich fährt der letzte Zug. Du kommst mit zum Bahnhof?" Langsam nickte der Junge in den Bildschirm hinein. Der Bahnsteig war leer bis auf die Frau und den großen pausbäckigen Jungen, dem sie die Hand gab. Dann stieg sie in den Zug, den kein Mensch verlassen hatte und dessen Abteilfenster dicht verhangen waren. Als die Schlusslichter sich in der Dunkelheit aufgelöst hatten, ging der Junge hinunter in die weite Eingangshalle. Durch die gläserne Tür war die dunkle Silhouette einer großen Stadt zu sehen. Der Kopf des Jungen schien plötzlich schmaler und die kalten Augen schauten aus einem formlosen Gesicht. Zögernd ging er auf die Tür zu, die sich geräuschlos öffnete und ihn einer einsamen Nacht überließ. An dieser Stelle blieb das Bild stehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute durch das Dachfenster des kleinen Raumes. Es war Nacht und nur wenige Sterne standen am Himmel. Der Junge seufzte. Dann schaute er zu einem Sessel, der in der aufgeräumten Ecke seines Zimmers stand. Der Sessel war sauber und leer. Doch niemals würde in ihm jemand sitzen können. Und es war, als wenn alles, was jemals geschehen könnte schon längst geschehen sei. Die Augen des Jungen waren kalt und leer. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
In einer Welt mit wenigen Sternen Fast geräuschlos glitt der letzte Zug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen jungen Mann. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden und schon bald von der Dunkelheit aufgesaugt waren. Der Mann ging zum Ausgang. Seine Schritte durch den menschenleeren Bahnhof waren von berechneter Gleichmäßigkeit. Im Licht der Lampen schimmerte sein Gesicht als sei es aus Wachs. Der Mann warf die Zigarette auf die kleinen schwarzweiß karierten Fliesen und schaute hoch zur gläsernen Kuppel der Halle. Schwarze Vögel mit grob zerfransten Flügeln lösten sich aus den Streben und schwebten dicht unterhalb der Kuppel. Von Zeit zu Zeit stießen sie schrille Schreie aus. Das blasse Gesicht des Mannes entließ ein Lächeln und seine blauen Augen funkelten. Er wandte sich zur Tür hinter der sich die dunkle Silhouette einer großen Stadt abzeichnete. Der Himmel darüber war schwarz und zeigte nur wenige Sterne. Langsam, einen langen Schatten hinter sich her schleppend, ging der Mann hinaus in die einsame Nacht. An dieser Stelle blieb das Bild stehen. Es verging eine Weile bis die Frau dem großen pausbäckigen Jungen anerkennend auf die Schulter klopfte. Sein Gesicht bekam Farbe. Eine lange Strähne seines urwüchsigen rotblonden Haares fiel ihm vor die Augen. Er tippte ein paar Ziffern in den Computer, worauf das Bild von einer blauen Fläche überschrieben wurde. Fordernd blinkte der Cursor in der linken unteren Ecke. "Wie gefällt es dir?" fragte der Junge. Die Frau ging langsam zum Sessel hinüber, der - umgeben von Computerbücher, Diskettenboxen und Bildschirmen - in einer Ecke der Dachkammer stand. Einen Augenblick schaute sie in das Gesicht des Jungen, dessen lebenshungrige Augen auf sie gerichtet waren. Dann schaute sie durch das Dachfenster in die Nacht. "Die Sterne dieses Himmels wären leicht zu zählen", dachte sie. "Ich will hier raus", rief plötzlich der Junge. "Du bist aber nicht der Einzige", antwortete die Frau. Der Junge schüttelte den Kopf, so dass eine Haarsträhne über seine Nasenspitze strich. "Mein Programm ist aber das Beste!" "Mag sein", sagte die Frau und zupfte Flusen von ihrem roten Kleid. "Jede kleinste Veränderung des ersten Bildes löst also eine andere Geschichte aus?" fragte sie. Der Junge nickte. "Anstelle einer Zigarette könnte der Mann auch einen Kaugummi auspacken. Oder er könnte einen Blumenstrauß in der Hand halten. Der Computer beachtet diese Details und erstellt dann womöglich eine ganz andere Geschichte." "Womöglich?" "Ja sicher!" begeisterte sich der Junge. "Das ist es doch gerade! Der Computer besitzt die Fähigkeit nahezu unendlich viele Verknüpfungen zu berechnen. Es ist nicht vorhersagbar was geschieht. Die Geschichte kann ganz banal verlaufen. Sie kann spannend werden oder ins Phantastische abgleiten. Alles wie im richtigen Leben!" "Der Mann auf dem Bahnsteig könnte auch ein rundes, pausbäckiges Gesicht haben?" fragte die Frau. Der Junge schaute schweigend auf den Fußboden. "Du hast noch andere Bilder?" "Ja", flüsterte der Junge, "ein spielendes Kind auf einem Dachboden. Einen Jungen, der mit dem Fernrohr in den Nachthimmel schaut. Einen jungen Mann..." "Das sind alles Motive aus deinem Leben, nicht wahr?" Der Junge richtete sich auf. "Woher denn sonst?" Die Frau atmete tief durch. "Ich will hier raus!" rief der Junge. "Ja, ich weiß", sagte die Frau. "Ich versuche auch alles. Aber dort ist eine ganz andere Welt..." "Wirklich? So ganz anders?" Die Frau betrachtete nachdenklich den Bildschirm des Computers. "Ganz anders - und auch wiederum nicht." Der Junge beobachtete mit offenem Mund die Frau. Dann sagte er: "Ich habe dir immer vertraut." "Dessen bin ich mir bewusst." Die Frau schaute sich in dem Zimmer um. "Aber du weist ja, daß es zwischen hier und der Wirklichkeit einen Unterschied gibt. Und selbst durch ein noch so gutes Programm ist dieser Unterschied nicht aufzuheben." Der Junge strich sich die Strähne aus dem Gesicht und schaute auf den blinkenden Cursor. "Es wird Zeit", sagte die Frau nach einer Weile und stand mit einem Ruck auf. "Gleich fährt der letzte Zug. Du kommst mit zum Bahnhof?" Langsam nickte der Junge in den Bildschirm hinein. Der Bahnsteig war leer bis auf die Frau und den großen pausbäckigen Jungen, dem sie die Hand gab. Dann stieg sie in den Zug, den kein Mensch verlassen hatte und dessen Abteilfenster dicht verhangen waren. Als die Schlusslichter sich in der Dunkelheit aufgelöst hatten, ging der Junge hinunter in die weite Eingangshalle. Durch die gläserne Tür war die dunkle Silhouette einer großen Stadt zu sehen. Der Kopf des Jungen schien plötzlich schmaler und die kalten Augen schauten aus einem formlosen Gesicht. Zögernd ging er auf die Tür zu, die sich geräuschlos öffnete und ihn einer einsamen Nacht überließ. An dieser Stelle blieb das Bild stehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute durch das Dachfenster des kleinen Raumes. Es war Nacht und nur wenige Sterne standen am Himmel. Der Junge seufzte. Dann schaute er zu einem Sessel, der in der aufgeräumten Ecke seines Zimmers stand. Der Sessel war sauber und leer. Doch niemals würde in ihm jemand sitzen können. Und es war, als wenn alles, was jemals geschehen könnte schon längst geschehen sei. Die Augen des Jungen waren kalt und leer. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015