In einer Welt mit wenigen Sternen
Fast geräuschlos glitt der letzte Zug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen jungen
Mann. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter
rasch kleiner wurden und schon bald von der Dunkelheit aufgesaugt waren.
Der Mann ging zum Ausgang. Seine Schritte durch den menschenleeren Bahnhof waren von
berechneter Gleichmäßigkeit. Im Licht der Lampen schimmerte sein Gesicht als sei es aus Wachs.
Der Mann warf die Zigarette auf die kleinen schwarzweiß karierten Fliesen und schaute hoch zur
gläsernen Kuppel der Halle. Schwarze Vögel mit grob zerfransten Flügeln lösten sich aus den
Streben und schwebten dicht unterhalb der Kuppel. Von Zeit zu Zeit stießen sie schrille Schreie
aus.
Das blasse Gesicht des Mannes entließ ein Lächeln und seine blauen Augen funkelten. Er wandte
sich zur Tür hinter der sich die dunkle Silhouette einer großen Stadt abzeichnete. Der Himmel
darüber war schwarz und zeigte nur wenige Sterne.
Langsam, einen langen Schatten hinter sich her schleppend, ging der Mann hinaus in die einsame
Nacht. An dieser Stelle blieb das Bild stehen.
Es verging eine Weile bis die Frau dem großen pausbäckigen Jungen anerkennend auf die
Schulter klopfte. Sein Gesicht bekam Farbe. Eine lange Strähne seines urwüchsigen rotblonden
Haares fiel ihm vor die Augen. Er tippte ein paar Ziffern in den Computer, worauf das Bild von einer
blauen Fläche überschrieben wurde. Fordernd blinkte der Cursor in der linken unteren Ecke.
"Wie gefällt es dir?" fragte der Junge.
Die Frau ging langsam zum Sessel hinüber, der - umgeben von Computerbücher, Diskettenboxen
und Bildschirmen - in einer Ecke der Dachkammer stand. Einen Augenblick schaute sie in das
Gesicht des Jungen, dessen lebenshungrige Augen auf sie gerichtet waren. Dann schaute sie
durch das Dachfenster in die Nacht. "Die Sterne dieses Himmels wären leicht zu zählen", dachte
sie.
"Ich will hier raus", rief plötzlich der Junge.
"Du bist aber nicht der Einzige", antwortete die Frau. Der Junge schüttelte den Kopf, so dass eine
Haarsträhne über seine Nasenspitze strich.
"Mein Programm ist aber das Beste!"
"Mag sein", sagte die Frau und zupfte Flusen von ihrem roten Kleid. "Jede kleinste Veränderung
des ersten Bildes löst also eine andere Geschichte aus?" fragte sie. Der Junge nickte.
"Anstelle einer Zigarette könnte der Mann auch einen Kaugummi auspacken. Oder er könnte einen
Blumenstrauß in der Hand halten. Der Computer beachtet diese Details und erstellt dann
womöglich eine ganz andere Geschichte."
"Womöglich?"
"Ja sicher!" begeisterte sich der Junge. "Das ist es doch gerade! Der Computer besitzt die Fähigkeit
nahezu unendlich viele Verknüpfungen zu berechnen. Es ist nicht vorhersagbar was geschieht. Die
Geschichte kann ganz banal verlaufen. Sie kann spannend werden oder ins Phantastische
abgleiten. Alles wie im richtigen Leben!"
"Der Mann auf dem Bahnsteig könnte auch ein rundes, pausbäckiges Gesicht haben?" fragte die
Frau. Der Junge schaute schweigend auf den Fußboden. "Du hast noch andere Bilder?"
"Ja", flüsterte der Junge, "ein spielendes Kind auf einem Dachboden. Einen Jungen, der mit dem
Fernrohr in den Nachthimmel schaut. Einen jungen Mann..."
"Das sind alles Motive aus deinem Leben, nicht wahr?"
Der Junge richtete sich auf. "Woher denn sonst?" Die Frau atmete tief durch.
"Ich will hier raus!" rief der Junge.
"Ja, ich weiß", sagte die Frau. "Ich versuche auch alles. Aber dort ist eine ganz andere Welt..."
"Wirklich? So ganz anders?"
Die Frau betrachtete nachdenklich den Bildschirm des Computers. "Ganz anders - und auch
wiederum nicht."
Der Junge beobachtete mit offenem Mund die Frau. Dann sagte er:
"Ich habe dir immer vertraut."
"Dessen bin ich mir bewusst." Die Frau schaute sich in dem Zimmer um. "Aber du weist ja, daß es
zwischen hier und der Wirklichkeit einen Unterschied gibt. Und selbst durch ein noch so gutes
Programm ist dieser Unterschied nicht aufzuheben."
Der Junge strich sich die Strähne aus dem Gesicht und schaute auf den blinkenden Cursor.
"Es wird Zeit", sagte die Frau nach einer Weile und stand mit einem Ruck auf. "Gleich fährt der
letzte Zug. Du kommst mit zum Bahnhof?" Langsam nickte der Junge in den Bildschirm hinein.
Der Bahnsteig war leer bis auf die Frau und den großen pausbäckigen Jungen, dem sie die Hand
gab. Dann stieg sie in den Zug, den kein Mensch verlassen hatte und dessen Abteilfenster dicht
verhangen waren. Als die Schlusslichter sich in der Dunkelheit aufgelöst hatten, ging der Junge
hinunter in die weite Eingangshalle. Durch die gläserne Tür war die dunkle Silhouette einer großen
Stadt zu sehen. Der Kopf des Jungen schien plötzlich schmaler und die kalten Augen schauten aus
einem formlosen Gesicht. Zögernd ging er auf die Tür zu, die sich geräuschlos öffnete und ihn einer
einsamen Nacht überließ.
An dieser Stelle blieb das Bild stehen. Ein junger Mann mit schmalem Gesicht lehnte sich in seinen
Stuhl zurück und schaute durch das Dachfenster des kleinen Raumes. Es war Nacht und nur
wenige Sterne standen am Himmel. Der Junge seufzte. Dann schaute er zu einem Sessel, der in
der aufgeräumten Ecke seines Zimmers stand. Der Sessel war sauber und leer. Doch niemals
würde in ihm jemand sitzen können. Und es war, als wenn alles, was jemals geschehen könnte
schon längst geschehen sei. Die Augen des Jungen waren kalt und leer.
(c) Klaus Dieter Schley