Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Eine seltsame Zahnbehandlung Die Schmerzen waren so unerträglich geworden, daß ich meinen ganzen Mut zusammengefaßt und um einen Termin bei meinem Zahnarzt gebeten hatte. Und nun war es soweit. Ich stand vor der Praxistür und meine Hand ruhte auf dem Türgriff. Oh ja, am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause gefahren. Ich sehnte mich nach meinem Bett, in das ich mich nur zu gerne verkrochen hätte, um in einen tiefen traumlosen Schlaf zu versinken. Denn nicht nur der Tag in der Firma war anstrengend gewesen. Ich hatte ja schreckliche Nächte durchlitten. Aber gerade deshalb galt es jetzt nicht zu kneifen, auch wenn mir schon der typische Geruch einer Zahnarztpraxis in der Nase lag und plötzlich auch noch jenes pfeifende Geräusch anhob, das mir sogleich ein Grauen durch den Körper jagte. Ich atmete also einmal kräftig durch, drückte die Tür auf und ging entschlossen auf den Tresen der Anmeldung zu. Während die Helferin meine Karteikarte suchte und meinen Namen auf ihrem Kalender durchstrich, erinnerte ich mich der letzten Behandlung. Sie lag schon lange zurück. Dank Karies in einem späten Stadium war sie sehr langwierig und schmerzhaft gewesen. Und das, obwohl mein Zahnarzt sehr geschickt war und über eine sicher Hand verfügte. Aber auch der beste Zahnarzt wird keine schmerzfreie Behandlung durchführen können bei einem so schlechten Patienten wie mir, der nur kommt, wenn es nicht mehr anders geht. Ich mußte also wieder mit dem Schlimmsten rechnen. "Sie haben Glück", sagte die junge Frau in der Anmeldung. "Sie können gleich in den Behandlungsraum Zwei gehen." In Nummer Zwei empfing mich die hübsche Helferin, deren mitfühlende Anteilnahme ich vom letzten Mal noch in guter Erinnerung hatte. Zumindest das war ein Trost. "Bitte setzen sie sich", sagte sie und zeigte auf den Behandlungsstuhl. "Sie waren schon lange nicht mehr bei uns?" "Das mögen zwei Jahre sein." "Sind Sie zum Nachschauen gekommen oder haben Sie Schmerzen?" "Wegen Schmerzen. Sie sind aber schon wieder weg", beeilte ich mich zu sagen, als könnte ich dadurch Gnade erlangen. Und es stimmte ja auch. Den ganzen Tag hatte ich keine Schmerzen mehr gehabt, so daß ich schon daran gedachte hatte, den Termin abzusagen. Die Helferin zeigte sich aber unbeeindruckt. Sie ließ den Behandlungsstuhl hochfahren und stellte die Rückenlehne zurück, so das ich in eine bequeme, faßt horizontale Lage geriet. Dann legte sie mir eine große Papierserviette unter das Kinn und paßte mir die Kopfstütze an. Anschließend breitete sie das Behandlungsbesteck auf dem Tischchen aus, dabei ließ sie die verschiedensten Bohrer einsatzbereit aus der Garage fahren. Verstohlen wagte ich einen Blick auf diese unangenehmen Instrumente. Ihre Bereitschaft erschien mir wie eine heimtückische Drohung. Zuletzt stellte sie noch ein Glas neben das Speichelbecken. Automatisch wurde es mit Wasser gefüllt. "Sie müssen sich noch einen Moment gedulden. Der Herr Doktor kommt gleich", sagte sie und verließ den Raum. Da lag ich nun und hatte noch eine Galgenfrist. Das Behandlungszimmer ging zum Hof hinaus. So waren die Straßengeräusche durch das gekippte Fenster nur schwach zu hören. Umso deutlicher erklang der abendliche Gesang der Vögel. Es war eine friedliche Ruhe. An den Wänden hingen Bilder mit Figuren aus der Welt von Walt Disney. Micky Mouse erklärte den Umgang mit einer Zahnbürste. Sein Freund Goofy lief mit einer geschwollenen Wange durch den Wald und jammerte schauderhaft. Er gelobte eine bessere Zahnpflege. Füchse und Kaninchen bleckten ihre makellosen Zähne. Obwohl sich unter das Vogelgezwitscher schwach die pfeifende Geräusche eines Bohrers mischten, störte ich mich daran nicht mehr, sondern fand endlich etwas innere Ruhe. Plötzlich stand der Zahnarzt vor mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er den Raum betreten hatte. Einen Augenblick schien es mir, als wenn er die ganze Zeit hinter mir gestanden hätte, um mich heimlich zu beobachten. Doch was für ein unsinniger Gedanke. Als er mich mit einem festen Handschlag begrüßte, war ich erschrocken über seine rauhe und knochige Hand. Auch die hübsche Helferin trat jetzt unvermutet an ihren Platz. "Sie haben Schmerzen?" fragt mich der Arzt während er meine Karteikarte studierte. "Ja, oben rechts." "Mhm", machte er. Sein runder Mund unter der überaus großen Nase verzerrte sich zu einem schrägen Lächeln. Ich bemerkte, wie er mit der Helferin einen verständigen Blick tauschte. Selber Schuld, wird er wohl denken. Warum kommst du auch nicht regelmäßig. "Dann wollen wir mal", sagte er und schaltete die Behandlungslampe ein. Das Licht blendete mich. "Mund auf", rief er und justierte mit ein paar ruppigen Griffen die Höhe des Behandlungsstuhles. Mit einer Sonde und einem Mundspiegel erkundete er mein Gebiß. Er stach hier und kratzte dort, klopfte mal von oben dann wieder von der Seite gegen die Zähne. "Löcher, nichts als Löcher. Eine vollendete Kraterlandschaft", raunte er. Ich preßte meine Hände auf die Stuhllehne und spürte, wie sich kalter Schweiß auf meine Stirn sammelte. "So ein kaputtes Gebiß haben wir schon lange nicht gesehen", sagte er zur Helferin. Die aber stand nur stumm und reglos an ihrem Platz. Nachdem er mein Gebiß erkundet hatte, richtete er sich auf und drehte die Lampe zur Seite. Erst jetzt wurde ich gewahr, daß seine Nase überaus groß war, ja geradezu riesig und entstellt. Hatte er einen Unfall gehabt? Ich konnte mich nicht entsinnen, daß mir bei früheren Behandlungen sein Äußeres derart unangenehm aufgefallen war. Doch noch ehe ich dazu kam in meiner Erinnerung weiter zu forschen, fiel mir die Spitze seiner Nase auf. Irgend etwas Helles schimmerte dort im Licht. "Da haben wir reichlich zu tun", sagte der Arzt und schreckte mich damit aus meinen Beobachtungen auf. "Er ist für heute der letzte Patient", erklärte die Helferin. "Dann haben wir ja schön viel Zeit", sagte er und rieb sich seine groben Hände. Die Helferin lachte. Ihr fehlten oben und unten Schneidezähne. Und die anderen Zähne waren mehr gelb als weiß. Durch Absplitterungen waren sie zudem verunstaltet. "Was für ein häßliches Gebiß", dachte ich und war zugleich erschrocken wie enttäuscht. Der Zahnarzt drehte die blendende Lampe zurück. Dann griff er zu einem Bohrer und hielt ihn mir übers Gesicht. Die Helferin hielt das Absaugröhrchen bereit. Jetzt ging es also los. Ich versuchte mich tiefer in den Behandlungsstuhl zu drücken, als könnte ich dadurch dem Bohrer entweichen. "Wenn es schmerzt müssen Sie die Hand heben", sagte er. Ich öffnete meinen Mund und sie fuhren mit ihren Instrumenten in die Mundhöhle. Der Bohrer jaulte auf. Er pfiff und quietschte, und sogleich schoß mir ein schauriges Gefühl durch Mark und Bein. Das Absaugrohr röchelte, und Kühlwasser spritzte mir wie bei einem Springbrunnen aus dem Rachen. Plötzlich befürchtete ich, daß der Bohrer in meinem Zahn stecken bleiben würde und wollte meine Hand anheben. Aber in meinen Glieder war kein Gefühl mehr. Sie wollten mir nicht gehorchen. Meine Hand blieb regungslos, wie tot, auf dem Leder des Stuhls liegen. Da nahm der Arzt den Bohrer zu meiner Erleichterung heraus. Ich konzentrierte mich um ruhiger zu werden. Bloß nicht schlapp machen, dachte ich. Es wird schon nicht so schlimm. Im blendenden Schein der Lampe sah ich schemenhaft, wie er einen anderen Bohrer vorbereitete. Ein größeres, brummendes Gerät. Und ehe ich mich versah schirmte seine riesige Nase das Licht, und ich schaute in die häßlichen Augen des Arztes, die wiederum ganz in meinen Rachen versanken. Den brummenden Bohrer drückte er hart an meinen Zahn. Sofort bebte mein ganzer Körper. Mit unüberwindbarer Kraft preßte mich etwas auf den Stuhl. Doch was war das? An der Nasenspitze des Arztes baumelte ein großer Tropfen, der das Licht in schillernden Farben brach. Dieser Tropfen schwebte in drohender Lokkerheit über meinen aufgesperrten Rachen. "Den Mund auf, weiter, weiter, Mensch, wie soll denn da einer rein kommen", rügte mich der Arzt. Und die Helferin hebelte mit dem Absaugrohr an meinen Zähnen, daß ich schon fürchtete, gleich bricht mir der Kiefer. "Nein nicht!" wollte ich rufen, aber wie? Der Bohrer ruckelte in meinem Zahn, der Tropfen unter Nasenspitze wuchs und wuchs, mein Kopf schlug gegen die Stütze, mein Körper wurde hin- und her geschlagen, da löste sich der riesige Tropfen von der Nase und entsetzt schaute ich in das lachende Gesicht der hübschen Helferin, die mich noch immer an der Schulter rüttelte. "Haben Sie gut geruht?" fragte mich der Zahnarzt und reichte mir seine Hand. "Entschuldigen Sie das es etwas länger gedauert hat. Aber sie haben ja die Zeit sinnvoll genutzt." Von meinem Traum noch ganz benommen erwiderte ich seinen Handschlag. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Eine seltsame Zahnbehandlung Die Schmerzen waren so unerträglich geworden, daß ich meinen ganzen Mut zusammengefaßt und um einen Termin bei meinem Zahnarzt gebeten hatte. Und nun war es soweit. Ich stand vor der Praxistür und meine Hand ruhte auf dem Türgriff. Oh ja, am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause gefahren. Ich sehnte mich nach meinem Bett, in das ich mich nur zu gerne verkrochen hätte, um in einen tiefen traumlosen Schlaf zu versinken. Denn nicht nur der Tag in der Firma war anstrengend gewesen. Ich hatte ja schreckliche Nächte durchlitten. Aber gerade deshalb galt es jetzt nicht zu kneifen, auch wenn mir schon der typische Geruch einer Zahnarztpraxis in der Nase lag und plötzlich auch noch jenes pfeifende Geräusch anhob, das mir sogleich ein Grauen durch den Körper jagte. Ich atmete also einmal kräftig durch, drückte die Tür auf und ging entschlossen auf den Tresen der Anmeldung zu. Während die Helferin meine Karteikarte suchte und meinen Namen auf ihrem Kalender durchstrich, erinnerte ich mich der letzten Behandlung. Sie lag schon lange zurück. Dank Karies in einem späten Stadium war sie sehr langwierig und schmerzhaft gewesen. Und das, obwohl mein Zahnarzt sehr geschickt war und über eine sicher Hand verfügte. Aber auch der beste Zahnarzt wird keine schmerzfreie Behandlung durchführen können bei einem so schlechten Patienten wie mir, der nur kommt, wenn es nicht mehr anders geht. Ich mußte also wieder mit dem Schlimmsten rechnen. "Sie haben Glück", sagte die junge Frau in der Anmeldung. "Sie können gleich in den Behandlungsraum Zwei gehen." In Nummer Zwei empfing mich die hübsche Helferin, deren mitfühlende Anteilnahme ich vom letzten Mal noch in guter Erinnerung hatte. Zumindest das war ein Trost. "Bitte setzen sie sich", sagte sie und zeigte auf den Behandlungsstuhl. "Sie waren schon lange nicht mehr bei uns?" "Das mögen zwei Jahre sein." "Sind Sie zum Nachschauen gekommen oder haben Sie Schmerzen?" "Wegen Schmerzen. Sie sind aber schon wieder weg", beeilte ich mich zu sagen, als könnte ich dadurch Gnade erlangen. Und es stimmte ja auch. Den ganzen Tag hatte ich keine Schmerzen mehr gehabt, so daß ich schon daran gedachte hatte, den Termin abzusagen. Die Helferin zeigte sich aber unbeeindruckt. Sie ließ den Behandlungsstuhl hochfahren und stellte die Rückenlehne zurück, so das ich in eine bequeme, faßt horizontale Lage geriet. Dann legte sie mir eine große Papierserviette unter das Kinn und paßte mir die Kopfstütze an. Anschließend breitete sie das Behandlungsbesteck auf dem Tischchen aus, dabei ließ sie die verschiedensten Bohrer einsatzbereit aus der Garage fahren. Verstohlen wagte ich einen Blick auf diese unangenehmen Instrumente. Ihre Bereitschaft erschien mir wie eine heimtückische Drohung. Zuletzt stellte sie noch ein Glas neben das Speichelbecken. Automatisch wurde es mit Wasser gefüllt. "Sie müssen sich noch einen Moment gedulden. Der Herr Doktor kommt gleich", sagte sie und verließ den Raum. Da lag ich nun und hatte noch eine Galgenfrist. Das Behandlungszimmer ging zum Hof hinaus. So waren die Straßengeräusche durch das gekippte Fenster nur schwach zu hören. Umso deutlicher erklang der abendliche Gesang der Vögel. Es war eine friedliche Ruhe. An den Wänden hingen Bilder mit Figuren aus der Welt von Walt Disney. Micky Mouse erklärte den Umgang mit einer Zahnbürste. Sein Freund Goofy lief mit einer geschwollenen Wange durch den Wald und jammerte schauderhaft. Er gelobte eine bessere Zahnpflege. Füchse und Kaninchen bleckten ihre makellosen Zähne. Obwohl sich unter das Vogelgezwitscher schwach die pfeifende Geräusche eines Bohrers mischten, störte ich mich daran nicht mehr, sondern fand endlich etwas innere Ruhe. Plötzlich stand der Zahnarzt vor mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er den Raum betreten hatte. Einen Augenblick schien es mir, als wenn er die ganze Zeit hinter mir gestanden hätte, um mich heimlich zu beobachten. Doch was für ein unsinniger Gedanke. Als er mich mit einem festen Handschlag begrüßte, war ich erschrocken über seine rauhe und knochige Hand. Auch die hübsche Helferin trat jetzt unvermutet an ihren Platz. "Sie haben Schmerzen?" fragt mich der Arzt während er meine Karteikarte studierte. "Ja, oben rechts." "Mhm", machte er. Sein runder Mund unter der überaus großen Nase verzerrte sich zu einem schrägen Lächeln. Ich bemerkte, wie er mit der Helferin einen verständigen Blick tauschte. Selber Schuld, wird er wohl denken. Warum kommst du auch nicht regelmäßig. "Dann wollen wir mal", sagte er und schaltete die Behandlungslampe ein. Das Licht blendete mich. "Mund auf", rief er und justierte mit ein paar ruppigen Griffen die Höhe des Behandlungsstuhles. Mit einer Sonde und einem Mundspiegel erkundete er mein Gebiß. Er stach hier und kratzte dort, klopfte mal von oben dann wieder von der Seite gegen die Zähne. "Löcher, nichts als Löcher. Eine vollendete Kraterlandschaft", raunte er. Ich preßte meine Hände auf die Stuhllehne und spürte, wie sich kalter Schweiß auf meine Stirn sammelte. "So ein kaputtes Gebiß haben wir schon lange nicht gesehen", sagte er zur Helferin. Die aber stand nur stumm und reglos an ihrem Platz. Nachdem er mein Gebiß erkundet hatte, richtete er sich auf und drehte die Lampe zur Seite. Erst jetzt wurde ich gewahr, daß seine Nase überaus groß war, ja geradezu riesig und entstellt. Hatte er einen Unfall gehabt? Ich konnte mich nicht entsinnen, daß mir bei früheren Behandlungen sein Äußeres derart unangenehm aufgefallen war. Doch noch ehe ich dazu kam in meiner Erinnerung weiter zu forschen, fiel mir die Spitze seiner Nase auf. Irgend etwas Helles schimmerte dort im Licht. "Da haben wir reichlich zu tun", sagte der Arzt und schreckte mich damit aus meinen Beobachtungen auf. "Er ist für heute der letzte Patient", erklärte die Helferin. "Dann haben wir ja schön viel Zeit", sagte er und rieb sich seine groben Hände. Die Helferin lachte. Ihr fehlten oben und unten Schneidezähne. Und die anderen Zähne waren mehr gelb als weiß. Durch Absplitterungen waren sie zudem verunstaltet. "Was für ein häßliches Gebiß", dachte ich und war zugleich erschrocken wie enttäuscht. Der Zahnarzt drehte die blendende Lampe zurück. Dann griff er zu einem Bohrer und hielt ihn mir übers Gesicht. Die Helferin hielt das Absaugröhrchen bereit. Jetzt ging es also los. Ich versuchte mich tiefer in den Behandlungsstuhl zu drücken, als könnte ich dadurch dem Bohrer entweichen. "Wenn es schmerzt müssen Sie die Hand heben", sagte er. Ich öffnete meinen Mund und sie fuhren mit ihren Instrumenten in die Mundhöhle. Der Bohrer jaulte auf. Er pfiff und quietschte, und sogleich schoß mir ein schauriges Gefühl durch Mark und Bein. Das Absaugrohr röchelte, und Kühlwasser spritzte mir wie bei einem Springbrunnen aus dem Rachen. Plötzlich befürchtete ich, daß der Bohrer in meinem Zahn stecken bleiben würde und wollte meine Hand anheben. Aber in meinen Glieder war kein Gefühl mehr. Sie wollten mir nicht gehorchen. Meine Hand blieb regungslos, wie tot, auf dem Leder des Stuhls liegen. Da nahm der Arzt den Bohrer zu meiner Erleichterung heraus. Ich konzentrierte mich um ruhiger zu werden. Bloß nicht schlapp machen, dachte ich. Es wird schon nicht so schlimm. Im blendenden Schein der Lampe sah ich schemenhaft, wie er einen anderen Bohrer vorbereitete. Ein größeres, brummendes Gerät. Und ehe ich mich versah schirmte seine riesige Nase das Licht, und ich schaute in die häßlichen Augen des Arztes, die wiederum ganz in meinen Rachen versanken. Den brummenden Bohrer drückte er hart an meinen Zahn. Sofort bebte mein ganzer Körper. Mit unüberwindbarer Kraft preßte mich etwas auf den Stuhl. Doch was war das? An der Nasenspitze des Arztes baumelte ein großer Tropfen, der das Licht in schillernden Farben brach. Dieser Tropfen schwebte in drohender Lokkerheit über meinen aufgesperrten Rachen. "Den Mund auf, weiter, weiter, Mensch, wie soll denn da einer rein kommen", rügte mich der Arzt. Und die Helferin hebelte mit dem Absaugrohr an meinen Zähnen, daß ich schon fürchtete, gleich bricht mir der Kiefer. "Nein nicht!" wollte ich rufen, aber wie? Der Bohrer ruckelte in meinem Zahn, der Tropfen unter Nasenspitze wuchs und wuchs, mein Kopf schlug gegen die Stütze, mein Körper wurde hin- und her geschlagen, da löste sich der riesige Tropfen von der Nase und entsetzt schaute ich in das lachende Gesicht der hübschen Helferin, die mich noch immer an der Schulter rüttelte. "Haben Sie gut geruht?" fragte mich der Zahnarzt und reichte mir seine Hand. "Entschuldigen Sie das es etwas länger gedauert hat. Aber sie haben ja die Zeit sinnvoll genutzt." Von meinem Traum noch ganz benommen erwiderte ich seinen Handschlag. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015