Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Die Stimmen im Wind Hatte jemand gerufen? Er lag auf dem Bett und blätterte lustlos in einer Zeitschrift, als er gegen die Balkontür aufschaute, in die brütende Mittagshitze lauschte und nach einer Weile, in der er nur die entfernte Brandung des Meeres hörte, wie das Gezwitscher der immer munteren Spatzen, stand er auf und ging auf den Balkon hinaus. Sich auf die erhitzte Brüstung abstützend schaute er über die Dächer des Dorfes zum Meer, in dessen Wellen sich das Licht der Sonne tausendfach spiegelte. Es würde einer der heißesten Tage in diesem Jahr werden und der von Afrika wehende Wind brachte keine Abkühlung, sondern wischte wie Ofenhitze über die Küste. Ein Onkel seiner Wirtin war gestorben und er wusste sie in einem Bergdorf auf der Beerdigung. Den Mann hatte er noch vor einigen Tagen gesehen, wie er trotz des hohen Alters mit seinem knorrigen Hirtenstab durch die Gassen schlurfte und in einem Kafenion Stunde um Stunde saß, inmitten der Gemeinschaft alter Männer. Sein Schnauzer, von imposanter Größe und exaktem Schnitt, leuchtete makellos weiß in einem vom Leben gegerbten Gesicht und machte ihn auch auf großer Entfernung unverwechselbar. Nun war der Alte tot. Seine Ziegen und Schafe würden von seinen Enkeln verkauft werden und auf dem Stuhl im Kafenion würde schon bald ein anderer sitzen. Und der Schnauzer würde nur noch auf Fotos leuchten, die auf Dauer vergilbten. In der engen Gasse unter dem Balkon schlenderte ein kleiner Junge mit schokoladenbraunen Armen und kurzem pechschwarzem Haar vorbei. Er summte irgendein Lied, wobei er mit einem Stecken über das unebene Pflaster kratzte, mal rechts ging, mal links, einen Moment auf einem Bein hüpfte, sich drehte, dann weiterging und irgendwo hinter einer Hausecke verschwand. Nein, er war von niemanden gerufen worden. Wer sollte auch? Er war ein Tourist, allein reisend, ein Müßiggänger; unbekannt in dem Ort, in dem er erst seit ein paar Tagen wohnte. Es war sicher eine Täuschung gewesen, auch wenn er durchaus spürte seinen Namen gehört zu haben. Also zog er sich in den dunklen Schlund seines Zimmer zurück, weil in den wenigen Minuten, in denen er auf dem Balkon gestanden war, die Sonne ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er setzte sich auf das Bett, blätterte in der Zeitschrift und ließ die Gesichter von Sportlern, von Königen und Präsidenten, von Schauspielern und Aidskranken, von Milliardären und Kriegsopfern durch seine Hände gleiten, bis er das Heft plötzlich fallen ließ und auf das Foto irgendeiner mehr oder weniger berühmten Persönlichkeit schaute, das vor ihm auf dem glänzenden Papier verharrte. Mit einem Satz sprang er auf und verließ das Haus als hätte er es plötzlich eilig. Sein Weg führte ihn durch das Dorf hinunter zum Strand. Wohin aber wollte er? Er wußte es nicht. Niemanden begegnete er um diese Zeit. Im Dorf wie am Strand hatten die Menschen sich in den Schatten verkrochen. Sie flohen der Sonne und dem heißen Wind. Aber er fühlte sich gut. Er schwitzte zwar, das ihm schon bald die Kleidung durchnässt war, aber er spürte genau, das es ihm gut tat zu laufen. Eine Weile schlenderte er am Wasser entlang. Dabei schaute er nach schön geformten Kieseln und las ein paar auf, von denen er glaubte, sie wären des Sammeln wert. Er warf sie aber bald darauf ins Meer zurück, weil sie noch schroff waren und bei weitem nicht so makellos wie es zunächst schien. In einem Jahr, in zehn Jahren oder hundert vielleicht. Plötzlich blieb er stehen, zog seine Schuhe aus und sprang in das Wasser ohne sich zu entkleiden. Er schwamm ein Stück hinaus, tauchte, schwamm umher und natürlich würde jemand denken, der ihn beobachtete, das er von der Sonne irre geworden war oder schon zuviel getrunken hatte. Aber es waren ja Ferien. Für die meisten waren Ferien und die Einheimischen hatten sich an alles gewöhnt. Als er sich ausgetobt hatte setzte er sich auf den Kieselstrand und schaute dem Spiel der Wellen zu. Die Sonne, die ihm im Nacken brannte, weckte ihn schon bald aus seiner Trägheit und so stand er auf, zog sich die Schuhe an und lief auf den Hügel zu, der den Strand begrenzte. Über einen schmalen Pfad zwischen Felsen und verdorrtem Gestrüpp stieg er den Hang hinauf, Meter um Meter, dabei von der Sonne gepeinigt und schwitzend, und als er endlich oben war ließ er sich erschöpft auf einen Stein im Schatten eines knorrigen Olivenbaumes sinken. Verrückt, ich bin ja verrückt, dachte er. Was mache ich hier? Da erinnerte er sich. Jemand hatte ihn gerufen und in Gedanken sah er den alten Mann an einem Hang oder auf einem Hügel stehen. Aber war das nicht schon lange her? Er spürte es nun ganz genau, dieses Gefühl, das er sich an etwas erinnerte was schon lange, sehr lange Zeit vergangen sein musste, wie er sich auch erinnerte, daß er in seinem Apartment auf dem Bett gesessen war und in einer Zeitschrift geblättert hatte mit den erstarrten Gesichtern einer verstorbenen Gegenwart. Gegen den Stamm der Olive gelehnt ließ er das Gefühl gewähren, in der Zeit verloren zu sein, bis ihm der Schweiß, der in seine Augen gesickert war, brannte und er sich über sein tun wunderte. Er hatte wahrscheinlich die Geduld verloren auf den Abend zu warten, wenn es kühler würde und das Leben wieder erwachte. Nun wollte er weiter. Er hatte sich genug erholt und stieg jenseits des Strandes zur wilden Bucht hinab. Die Sohle des Hügels erreicht begrüßte ihn das Meer mit der Gischt der zwischen den Felsen zerspringenden Wellen. Über Steine und Felsen hangelte er sich an der Küste entlang, während zwanzig, dreißig, fünfzig Meter über ihm der plötzlich heftiger werdende Wind in den Felsen und an den Sträuchern zerrte. Zunächst noch ganz munter sprang er von Stein zu Stein, hangelte sich hier und dort etwas die Böschung hinauf um dem anbrandenden Meer auszuweichen. Dann wieder schlenderte er über weite Strandflächen aus Sand und Kies. Immer wieder zerrte der Wind in den Tamarisken, peitschte die Gischt über die Steine und ließ hoch über ihm in einem dichten Bambuszaun, der die Felder vor dem Wind schützte, ein seltsames Pfeifen erklingen. Hinter einem mächtigen Küstenabbruch tat sich die Mündung eines ausgetrockneten Flussbettes auf. Ein schmaler Pfad führte landeinwärts, dem er folgte. Nach der ersten Biegung befand er sich in einem von der Sonne aufgeheiztem länglichen Tal. In dem Tal war es windstill und die Hitze wurde ihm plötzlich unerträglich, so das er erschöpft in den Schatten eines Felsen flüchtete. Einige Augenblicke stand er gegen den Felsen gelehnt, dann ließ er sich auf einen Stein nieder. Zunächst saß er noch etwas verkrampft, bis die Müdigkeit ihn weiter hinab sinken ließ und er sich passend in eine Mulde kuschelte. Vom Meer war nichts zu hören, obwohl es kaum mehr als hundert Schritte entfernt war. Nur der Wind spielte auf den unzähligen Bambusstäben des Zauns eine geheimnisvolle Melodie. Gegenüber seinem Lagerplatz im grellen Licht der Sonne ragte das Stück einer Säule aus dem Hang. Es war nichts ungewöhnliches in diesem Landstrich, dessen Böden noch zahlreiche Zeugnisse vergangener Kulturen bargen. Schon häufig war er über halb verschüttete Säulen und Bruchstücken von Bögen gestiegen, für die sich niemand interessierte, weil es reichlich davon gab. Wenn er sich ausgeruht haben würde, dachte er, aber dann ließ er seine Gedanken laufen, ließ sich in einen Traum sinken. Er spürte den Stein an seiner Hüfte drücken, gegen den er lag; er spürte, wenn der Wind Eingang in die Flussmündung gefunden hatte und mit Staub um ihn wirbelte. Er hatte geschlafen und wieder meinte er gerufen worden zu sein. Es war ein heißer, ein nahezu unerträglich heißer Tag, der ihm glauben machte Stimmen zu hören. Viele Stimmen, hunderte, Tausende. Riefen sie ihn? Aber warum? Es waren Menschen, über deren Leben er manches gelesen hatte. Nun aber wollten sie zu ihm sprechen. Sie hatten ihm etwas zu sagen, etwas wichtiges, das alle, die jetzt lebten, wissen sollten und von dem sie glaubten, das es sich nicht durch ihre Säulen, ihre Tonscherben, ihr Werkzeug und ihre Waffen mitteilen ließe. Er glaubte ihre Stimmen zu hören obwohl er wusste, dass es nicht möglich war, dass es an der Hitze liegen musste. Die Sonne war durch hohe Mauern abgeschattet und in den Schatten bewegten sich viele Menschen. Sie arbeiteten ohne aufzuschauen, sie nahmen ihn nicht war. Sie bearbeiten Steine, meißelten, frästen; sie formten Ton- und Lehmmassen, sie rührten und stampften in großen Gefäßen. Es gelang ihm nicht ihre Gesichter zu erkennen. Manche waren abgeschattet. Anderen ließ das grelle Licht der Sonne ihr Antlitz schmelzen. Plötzlich stand er vor einem großen Platz. Er hatte freie Sicht über eine mächtige Stadt und zu den Bergen hinüber, deren Hänge dicht bewaldet waren. Die Berge schienen ihm bekannt zu sein, obwohl er sich nicht erinnern konnte sie jemals so gesehen zu haben. In den Tälern gab es Äcker auf deren erdige Böden viele Menschen arbeiteten. Und dann das Meer: blau unter einem blauen Himmel. Auch kannte er dieses Meer. Am Seitenrand des Platzes stand ein großes Gebäude. Neben dem Eingang lagen Tafeln mit farbig gemalten Tieren und mit Menschen von der Art, wie sie ihm begegnet waren. Und es gab Tafeln mit Gestalten von mystischem wie göttlichem Aussehen. Auch standen dort große bemalte Krüge, gefüllt mit klarem Wasser, mit Getreide und mit duftenden Ölen. Durch eine Fensterhöhlung sah er einen alten Mann im Halbdunkel des Raumes auf dem Boden hocken. Der Alte meißelte Schriftzeichen in eine Tafel. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, nur sein weißer Schnauzer. Hatte der Mann ihn bemerkt? Der Alte winkte ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Durch eine schmale Tür gelangte er in einen verwinkelten dunklen Raum, in dem überall Krüge standen neben unbemeißelten Steinplatten, Säulen und halbe Skulpturen. Ihm schien, als befände er sich in einem Museum, in dem alles durcheinander geraten war. Von irgendwo her drangen die Arbeitsgeräusche des Alten; auch war entfernt das Leben der Straße zu hören. Es waren Stimmen, viele Stimmen, ein Raunen wie von belebten Gassen und Plätzen, das durch die dicken Mauern drang. Um ihn herum aber war es ruhig und verlassen von allem Lebendigen. Warum hatte der Alte gewunken? Wollte er etwas zeigen oder wollte er etwas verkaufen? Er spürte, als er in seinen Hosentaschen suchte, seine Kreditkarte und gleichzeitig fiel ihm eine Schale mit Münzen von grober Form auf. Auf einer der Münzen entdeckte er das Profil seines Kopfes. Mit zitternden Fingern wollte er zugreifen, doch schreckte er zurück. War etwas? Er schaute sich um, aber nirgends war jemand zu sehen. Die Krüge, die Steinplatten, alles lag bewegungslos an seinem Platz. Und es war still geworden. Auch die Arbeitsgeräusche aus dem verborgenen Nebenraum waren verstummt. War die Stadt, waren die Gassen plötzlich ausgestorben? Nur das Meer konnte er in der Ferne hören. Als er wieder auf die Münzen schaute waren die Prägungen kaum noch zu erkennen. Sie schienen verwittert, von der Zeit abgeschliffen und Staub hatte sich auf ihnen abgesetzt. Das spärliche Licht in dem Raum hatte ihn wohl getäuscht. Durch eine Tür, die ihm zunächst nicht aufgefallen war, gelangte er in einen anderen Raum und von dort ging es weiter zu einem nächsten und sofort - ein Raum schloss sich einem weiteren an und alle waren sie gefüllt mit Tausenden Scherben, zerbrochenen Alltagsgegenständen, mit Krügen, Skulpturen und überall mit Fresken an den Wänden, die er in der Dunkelheit kaum zu erkennen vermochte. Nur einen Ausgang schien es nicht zu geben. Doch wozu auch? Es machte ihm ja nichts aus durch die Räume zu laufen, weil er dabei ein Gefühl hatte als erinnere er sich. Ja, es war das Gefühl einer angenehmen, leicht wehmütigen Erinnerung das ihn Schritt für Schritt begleitete. Der Durst machte sich jäh bemerkbar. Auch wollte er etwas essen. Nur wenig - Oliven vielleicht, auch eine Tomate. Vor allem aber wollte er trinken: eine Karaffe mit Fruchtsaft und großen Eiswürfeln darin. Habt ihr denn nirgends etwas zu essen und zu trinken hätte er am liebsten gerufen, doch zog er es vor zu schweigen. Vermutlich war es besser unbemerkt zu bleiben. So entsann er sich, dass er große Krüge mit klarem Wasser darin gesehen hatte. Doch jeder Krug, in dem er nun schaute, war gefüllt mit einem schwarzen, alles verschlingenden Nichts. Plötzlich entdeckte er in einer Ecke den Alten. Sofort erkannte er ihn an seinem Schnauzer und noch immer hatte er eine Tafel vor sich stehen. Er saß da und winkte. Nein, nicht das er kommen sollte. Er winkte ihm den Weg. War in seiner Geste etwas drohendes? Geh! geh! deutete er ihm, geh! geh! und er lief bis er sich plötzlich im Schatten einer hohen Mauer befand, am Rande des Platzes, von der er eine gute Sicht über die Stadt, das Meer und die Berge hatte. Über der Stadt lag ein sanftes Gemurmel, ein pfeifender Singsang aus ungezählten Kehlen. Er sah Kinder, alte und junge Frauen, Männer jeden Alters und Aussehen und Menschen in Rüstungen und auf Pferden. Die auf den Pferden saßen schwenkten eifrig ihre Schilder und Sperre, wobei sie ihre imposant geschmückten Köpfe hin und her warfen. Sie erteilten Befehle, nach denen sich alle zu richten hatten. Und Befehle wie Befehlende gab es reichlich. Dennoch schien es, als würden die Menschen ohne Ziel und ohne Sinn umher laufen. Auch hier war es ihm nicht möglich in die Gesichter der Leute zu schauen, ihre Augen zu erblicken, die Form ihres Mundes und ihrer Nase zu ergründen. Die Gesichter schienen wie verschwommen, vom Licht aufgelöst oder von irgend etwas verdunkelt. So sehr er auch versuchte sich ein Bild von den Menschen zu machen, so wenig gelang es ihm. Auch nahm niemand von ihm Notiz. Die Leute waren damit beschäftigt sich auf ihre Art zu bewegen, aus irgendeiner Gasse auf dem Platz zu erscheinen, in der Masse und ihrem Singsang einzutauchen und nach irgendwohin zu verschwinden - als hätte es sie nie gegeben. Er war müde und setzte sich auf einen Stein. Noch immer war der Himmel so beherrschend blau. Und die Stimmen vieler Menschen, die über den weiten Platz zogen, vereinten sich zu einem großen Gemurmel das in ein langsam versiegendes Rauschen überging. Als er sich umschaute sah er, dass der Schatten, in dem er sich gesetzt hatte, schon mehr als die Hälfte der Schlucht einnahm. Für einen Augenblick viel es ihm schwer zu begreifen wo er war, obwohl er wusste, dass er geträumt hatte, daß seine Gedanken im Halbschlaf ihre Wege gegangen waren und er ihnen willenlos und mit einem angenehmen neugierigen Gefühl gefolgt war. Das er sich nicht auf seinem Bett liegend wiederfand irritierte, aber nur bis er plötzlich seine Hüftknochen spürte und sein linkes Bein, in dem es schmerzhaft kribbelte weil es eingeschlafen war. Er schaute hoch zum Zaun, aber der Wind hatte nachgelassen und es war still. Die Stimmen waren verstummt. Mühsam rappelte er sich auf, schlug den Staub aus seinen Kleidern und als sich endlich wieder sein Bein bewegen ließ, schlenderte er langsam die Schlucht aufwärts. Über den Pfad gelangte er zu einem Fahrweg an der eine Taverne stand. Die Frau, die in dem länglichen dunklen Raum saß und an einem blauen Jäckchen strickte, schaute überrascht auf und musterte den Eintretenden mit Skepsis, wohl weil dessen Haare verschwitzt wie zerzaust waren und dessen Kleidung verschmutzt war und der sich an einen Tisch setzte und ein Kaffee und ein Glas Wasser bestellte. Doch sie erkannte in ihm einen Touristen der wahrscheinlich verrückt genug war um in der Hitze umher zuwandern; und schon bald setzte sie sich wieder um weiter zu stricken. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen. Durch das Fenster neben dem Eingang sah er am Hang eines Hügels einen Mann zwischen verdorrten Tomatenstauden stehen. Auf dem Weg davor stand ein roter Chevrolet. Manchmal wehte der leichte Wind Musikfetzen von dem eingeschalteten Radio herüber, dann wieder waren nur die Stricknadeln der Frau zu hören. Und nach einer Weile hätte er schwören können, das man ihn gerufen hatte. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Die Stimmen im Wind Hatte jemand gerufen? Er lag auf dem Bett und blätterte lustlos in einer Zeitschrift, als er gegen die Balkontür aufschaute, in die brütende Mittagshitze lauschte und nach einer Weile, in der er nur die entfernte Brandung des Meeres hörte, wie das Gezwitscher der immer munteren Spatzen, stand er auf und ging auf den Balkon hinaus. Sich auf die erhitzte Brüstung abstützend schaute er über die Dächer des Dorfes zum Meer, in dessen Wellen sich das Licht der Sonne tausendfach spiegelte. Es würde einer der heißesten Tage in diesem Jahr werden und der von Afrika wehende Wind brachte keine Abkühlung, sondern wischte wie Ofenhitze über die Küste. Ein Onkel seiner Wirtin war gestorben und er wusste sie in einem Bergdorf auf der Beerdigung. Den Mann hatte er noch vor einigen Tagen gesehen, wie er trotz des hohen Alters mit seinem knorrigen Hirtenstab durch die Gassen schlurfte und in einem Kafenion Stunde um Stunde saß, inmitten der Gemeinschaft alter Männer. Sein Schnauzer, von imposanter Größe und exaktem Schnitt, leuchtete makellos weiß in einem vom Leben gegerbten Gesicht und machte ihn auch auf großer Entfernung unverwechselbar. Nun war der Alte tot. Seine Ziegen und Schafe würden von seinen Enkeln verkauft werden und auf dem Stuhl im Kafenion würde schon bald ein anderer sitzen. Und der Schnauzer würde nur noch auf Fotos leuchten, die auf Dauer vergilbten. In der engen Gasse unter dem Balkon schlenderte ein kleiner Junge mit schokoladenbraunen Armen und kurzem pechschwarzem Haar vorbei. Er summte irgendein Lied, wobei er mit einem Stecken über das unebene Pflaster kratzte, mal rechts ging, mal links, einen Moment auf einem Bein hüpfte, sich drehte, dann weiterging und irgendwo hinter einer Hausecke verschwand. Nein, er war von niemanden gerufen worden. Wer sollte auch? Er war ein Tourist, allein reisend, ein Müßiggänger; unbekannt in dem Ort, in dem er erst seit ein paar Tagen wohnte. Es war sicher eine Täuschung gewesen, auch wenn er durchaus spürte seinen Namen gehört zu haben. Also zog er sich in den dunklen Schlund seines Zimmer zurück, weil in den wenigen Minuten, in denen er auf dem Balkon gestanden war, die Sonne ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er setzte sich auf das Bett, blätterte in der Zeitschrift und ließ die Gesichter von Sportlern, von Königen und Präsidenten, von Schauspielern und Aidskranken, von Milliardären und Kriegsopfern durch seine Hände gleiten, bis er das Heft plötzlich fallen ließ und auf das Foto irgendeiner mehr oder weniger berühmten Persönlichkeit schaute, das vor ihm auf dem glänzenden Papier verharrte. Mit einem Satz sprang er auf und verließ das Haus als hätte er es plötzlich eilig. Sein Weg führte ihn durch das Dorf hinunter zum Strand. Wohin aber wollte er? Er wußte es nicht. Niemanden begegnete er um diese Zeit. Im Dorf wie am Strand hatten die Menschen sich in den Schatten verkrochen. Sie flohen der Sonne und dem heißen Wind. Aber er fühlte sich gut. Er schwitzte zwar, das ihm schon bald die Kleidung durchnässt war, aber er spürte genau, das es ihm gut tat zu laufen. Eine Weile schlenderte er am Wasser entlang. Dabei schaute er nach schön geformten Kieseln und las ein paar auf, von denen er glaubte, sie wären des Sammeln wert. Er warf sie aber bald darauf ins Meer zurück, weil sie noch schroff waren und bei weitem nicht so makellos wie es zunächst schien. In einem Jahr, in zehn Jahren oder hundert vielleicht. Plötzlich blieb er stehen, zog seine Schuhe aus und sprang in das Wasser ohne sich zu entkleiden. Er schwamm ein Stück hinaus, tauchte, schwamm umher und natürlich würde jemand denken, der ihn beobachtete, das er von der Sonne irre geworden war oder schon zuviel getrunken hatte. Aber es waren ja Ferien. Für die meisten waren Ferien und die Einheimischen hatten sich an alles gewöhnt. Als er sich ausgetobt hatte setzte er sich auf den Kieselstrand und schaute dem Spiel der Wellen zu. Die Sonne, die ihm im Nacken brannte, weckte ihn schon bald aus seiner Trägheit und so stand er auf, zog sich die Schuhe an und lief auf den Hügel zu, der den Strand begrenzte. Über einen schmalen Pfad zwischen Felsen und verdorrtem Gestrüpp stieg er den Hang hinauf, Meter um Meter, dabei von der Sonne gepeinigt und schwitzend, und als er endlich oben war ließ er sich erschöpft auf einen Stein im Schatten eines knorrigen Olivenbaumes sinken. Verrückt, ich bin ja verrückt, dachte er. Was mache ich hier? Da erinnerte er sich. Jemand hatte ihn gerufen und in Gedanken sah er den alten Mann an einem Hang oder auf einem Hügel stehen. Aber war das nicht schon lange her? Er spürte es nun ganz genau, dieses Gefühl, das er sich an etwas erinnerte was schon lange, sehr lange Zeit vergangen sein musste, wie er sich auch erinnerte, daß er in seinem Apartment auf dem Bett gesessen war und in einer Zeitschrift geblättert hatte mit den erstarrten Gesichtern einer verstorbenen Gegenwart. Gegen den Stamm der Olive gelehnt ließ er das Gefühl gewähren, in der Zeit verloren zu sein, bis ihm der Schweiß, der in seine Augen gesickert war, brannte und er sich über sein tun wunderte. Er hatte wahrscheinlich die Geduld verloren auf den Abend zu warten, wenn es kühler würde und das Leben wieder erwachte. Nun wollte er weiter. Er hatte sich genug erholt und stieg jenseits des Strandes zur wilden Bucht hinab. Die Sohle des Hügels erreicht begrüßte ihn das Meer mit der Gischt der zwischen den Felsen zerspringenden Wellen. Über Steine und Felsen hangelte er sich an der Küste entlang, während zwanzig, dreißig, fünfzig Meter über ihm der plötzlich heftiger werdende Wind in den Felsen und an den Sträuchern zerrte. Zunächst noch ganz munter sprang er von Stein zu Stein, hangelte sich hier und dort etwas die Böschung hinauf um dem anbrandenden Meer auszuweichen. Dann wieder schlenderte er über weite Strandflächen aus Sand und Kies. Immer wieder zerrte der Wind in den Tamarisken, peitschte die Gischt über die Steine und ließ hoch über ihm in einem dichten Bambuszaun, der die Felder vor dem Wind schützte, ein seltsames Pfeifen erklingen. Hinter einem mächtigen Küstenabbruch tat sich die Mündung eines ausgetrockneten Flussbettes auf. Ein schmaler Pfad führte landeinwärts, dem er folgte. Nach der ersten Biegung befand er sich in einem von der Sonne aufgeheiztem länglichen Tal. In dem Tal war es windstill und die Hitze wurde ihm plötzlich unerträglich, so das er erschöpft in den Schatten eines Felsen flüchtete. Einige Augenblicke stand er gegen den Felsen gelehnt, dann ließ er sich auf einen Stein nieder. Zunächst saß er noch etwas verkrampft, bis die Müdigkeit ihn weiter hinab sinken ließ und er sich passend in eine Mulde kuschelte. Vom Meer war nichts zu hören, obwohl es kaum mehr als hundert Schritte entfernt war. Nur der Wind spielte auf den unzähligen Bambusstäben des Zauns eine geheimnisvolle Melodie. Gegenüber seinem Lagerplatz im grellen Licht der Sonne ragte das Stück einer Säule aus dem Hang. Es war nichts ungewöhnliches in diesem Landstrich, dessen Böden noch zahlreiche Zeugnisse vergangener Kulturen bargen. Schon häufig war er über halb verschüttete Säulen und Bruchstücken von Bögen gestiegen, für die sich niemand interessierte, weil es reichlich davon gab. Wenn er sich ausgeruht haben würde, dachte er, aber dann ließ er seine Gedanken laufen, ließ sich in einen Traum sinken. Er spürte den Stein an seiner Hüfte drücken, gegen den er lag; er spürte, wenn der Wind Eingang in die Flussmündung gefunden hatte und mit Staub um ihn wirbelte. Er hatte geschlafen und wieder meinte er gerufen worden zu sein. Es war ein heißer, ein nahezu unerträglich heißer Tag, der ihm glauben machte Stimmen zu hören. Viele Stimmen, hunderte, Tausende. Riefen sie ihn? Aber warum? Es waren Menschen, über deren Leben er manches gelesen hatte. Nun aber wollten sie zu ihm sprechen. Sie hatten ihm etwas zu sagen, etwas wichtiges, das alle, die jetzt lebten, wissen sollten und von dem sie glaubten, das es sich nicht durch ihre Säulen, ihre Tonscherben, ihr Werkzeug und ihre Waffen mitteilen ließe. Er glaubte ihre Stimmen zu hören obwohl er wusste, dass es nicht möglich war, dass es an der Hitze liegen musste. Die Sonne war durch hohe Mauern abgeschattet und in den Schatten bewegten sich viele Menschen. Sie arbeiteten ohne aufzuschauen, sie nahmen ihn nicht war. Sie bearbeiten Steine, meißelten, frästen; sie formten Ton- und Lehmmassen, sie rührten und stampften in großen Gefäßen. Es gelang ihm nicht ihre Gesichter zu erkennen. Manche waren abgeschattet. Anderen ließ das grelle Licht der Sonne ihr Antlitz schmelzen. Plötzlich stand er vor einem großen Platz. Er hatte freie Sicht über eine mächtige Stadt und zu den Bergen hinüber, deren Hänge dicht bewaldet waren. Die Berge schienen ihm bekannt zu sein, obwohl er sich nicht erinnern konnte sie jemals so gesehen zu haben. In den Tälern gab es Äcker auf deren erdige Böden viele Menschen arbeiteten. Und dann das Meer: blau unter einem blauen Himmel. Auch kannte er dieses Meer. Am Seitenrand des Platzes stand ein großes Gebäude. Neben dem Eingang lagen Tafeln mit farbig gemalten Tieren und mit Menschen von der Art, wie sie ihm begegnet waren. Und es gab Tafeln mit Gestalten von mystischem wie göttlichem Aussehen. Auch standen dort große bemalte Krüge, gefüllt mit klarem Wasser, mit Getreide und mit duftenden Ölen. Durch eine Fensterhöhlung sah er einen alten Mann im Halbdunkel des Raumes auf dem Boden hocken. Der Alte meißelte Schriftzeichen in eine Tafel. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, nur sein weißer Schnauzer. Hatte der Mann ihn bemerkt? Der Alte winkte ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Durch eine schmale Tür gelangte er in einen verwinkelten dunklen Raum, in dem überall Krüge standen neben unbemeißelten Steinplatten, Säulen und halbe Skulpturen. Ihm schien, als befände er sich in einem Museum, in dem alles durcheinander geraten war. Von irgendwo her drangen die Arbeitsgeräusche des Alten; auch war entfernt das Leben der Straße zu hören. Es waren Stimmen, viele Stimmen, ein Raunen wie von belebten Gassen und Plätzen, das durch die dicken Mauern drang. Um ihn herum aber war es ruhig und verlassen von allem Lebendigen. Warum hatte der Alte gewunken? Wollte er etwas zeigen oder wollte er etwas verkaufen? Er spürte, als er in seinen Hosentaschen suchte, seine Kreditkarte und gleichzeitig fiel ihm eine Schale mit Münzen von grober Form auf. Auf einer der Münzen entdeckte er das Profil seines Kopfes. Mit zitternden Fingern wollte er zugreifen, doch schreckte er zurück. War etwas? Er schaute sich um, aber nirgends war jemand zu sehen. Die Krüge, die Steinplatten, alles lag bewegungslos an seinem Platz. Und es war still geworden. Auch die Arbeitsgeräusche aus dem verborgenen Nebenraum waren verstummt. War die Stadt, waren die Gassen plötzlich ausgestorben? Nur das Meer konnte er in der Ferne hören. Als er wieder auf die Münzen schaute waren die Prägungen kaum noch zu erkennen. Sie schienen verwittert, von der Zeit abgeschliffen und Staub hatte sich auf ihnen abgesetzt. Das spärliche Licht in dem Raum hatte ihn wohl getäuscht. Durch eine Tür, die ihm zunächst nicht aufgefallen war, gelangte er in einen anderen Raum und von dort ging es weiter zu einem nächsten und sofort - ein Raum schloss sich einem weiteren an und alle waren sie gefüllt mit Tausenden Scherben, zerbrochenen Alltagsgegenständen, mit Krügen, Skulpturen und überall mit Fresken an den Wänden, die er in der Dunkelheit kaum zu erkennen vermochte. Nur einen Ausgang schien es nicht zu geben. Doch wozu auch? Es machte ihm ja nichts aus durch die Räume zu laufen, weil er dabei ein Gefühl hatte als erinnere er sich. Ja, es war das Gefühl einer angenehmen, leicht wehmütigen Erinnerung das ihn Schritt für Schritt begleitete. Der Durst machte sich jäh bemerkbar. Auch wollte er etwas essen. Nur wenig - Oliven vielleicht, auch eine Tomate. Vor allem aber wollte er trinken: eine Karaffe mit Fruchtsaft und großen Eiswürfeln darin. Habt ihr denn nirgends etwas zu essen und zu trinken hätte er am liebsten gerufen, doch zog er es vor zu schweigen. Vermutlich war es besser unbemerkt zu bleiben. So entsann er sich, dass er große Krüge mit klarem Wasser darin gesehen hatte. Doch jeder Krug, in dem er nun schaute, war gefüllt mit einem schwarzen, alles verschlingenden Nichts. Plötzlich entdeckte er in einer Ecke den Alten. Sofort erkannte er ihn an seinem Schnauzer und noch immer hatte er eine Tafel vor sich stehen. Er saß da und winkte. Nein, nicht das er kommen sollte. Er winkte ihm den Weg. War in seiner Geste etwas drohendes? Geh! geh! deutete er ihm, geh! geh! und er lief bis er sich plötzlich im Schatten einer hohen Mauer befand, am Rande des Platzes, von der er eine gute Sicht über die Stadt, das Meer und die Berge hatte. Über der Stadt lag ein sanftes Gemurmel, ein pfeifender Singsang aus ungezählten Kehlen. Er sah Kinder, alte und junge Frauen, Männer jeden Alters und Aussehen und Menschen in Rüstungen und auf Pferden. Die auf den Pferden saßen schwenkten eifrig ihre Schilder und Sperre, wobei sie ihre imposant geschmückten Köpfe hin und her warfen. Sie erteilten Befehle, nach denen sich alle zu richten hatten. Und Befehle wie Befehlende gab es reichlich. Dennoch schien es, als würden die Menschen ohne Ziel und ohne Sinn umher laufen. Auch hier war es ihm nicht möglich in die Gesichter der Leute zu schauen, ihre Augen zu erblicken, die Form ihres Mundes und ihrer Nase zu ergründen. Die Gesichter schienen wie verschwommen, vom Licht aufgelöst oder von irgend etwas verdunkelt. So sehr er auch versuchte sich ein Bild von den Menschen zu machen, so wenig gelang es ihm. Auch nahm niemand von ihm Notiz. Die Leute waren damit beschäftigt sich auf ihre Art zu bewegen, aus irgendeiner Gasse auf dem Platz zu erscheinen, in der Masse und ihrem Singsang einzutauchen und nach irgendwohin zu verschwinden - als hätte es sie nie gegeben. Er war müde und setzte sich auf einen Stein. Noch immer war der Himmel so beherrschend blau. Und die Stimmen vieler Menschen, die über den weiten Platz zogen, vereinten sich zu einem großen Gemurmel das in ein langsam versiegendes Rauschen überging. Als er sich umschaute sah er, dass der Schatten, in dem er sich gesetzt hatte, schon mehr als die Hälfte der Schlucht einnahm. Für einen Augenblick viel es ihm schwer zu begreifen wo er war, obwohl er wusste, dass er geträumt hatte, daß seine Gedanken im Halbschlaf ihre Wege gegangen waren und er ihnen willenlos und mit einem angenehmen neugierigen Gefühl gefolgt war. Das er sich nicht auf seinem Bett liegend wiederfand irritierte, aber nur bis er plötzlich seine Hüftknochen spürte und sein linkes Bein, in dem es schmerzhaft kribbelte weil es eingeschlafen war. Er schaute hoch zum Zaun, aber der Wind hatte nachgelassen und es war still. Die Stimmen waren verstummt. Mühsam rappelte er sich auf, schlug den Staub aus seinen Kleidern und als sich endlich wieder sein Bein bewegen ließ, schlenderte er langsam die Schlucht aufwärts. Über den Pfad gelangte er zu einem Fahrweg an der eine Taverne stand. Die Frau, die in dem länglichen dunklen Raum saß und an einem blauen Jäckchen strickte, schaute überrascht auf und musterte den Eintretenden mit Skepsis, wohl weil dessen Haare verschwitzt wie zerzaust waren und dessen Kleidung verschmutzt war und der sich an einen Tisch setzte und ein Kaffee und ein Glas Wasser bestellte. Doch sie erkannte in ihm einen Touristen der wahrscheinlich verrückt genug war um in der Hitze umher zuwandern; und schon bald setzte sie sich wieder um weiter zu stricken. Die Sonne neigt sich dem Horizont entgegen. Durch das Fenster neben dem Eingang sah er am Hang eines Hügels einen Mann zwischen verdorrten Tomatenstauden stehen. Auf dem Weg davor stand ein roter Chevrolet. Manchmal wehte der leichte Wind Musikfetzen von dem eingeschalteten Radio herüber, dann wieder waren nur die Stricknadeln der Frau zu hören. Und nach einer Weile hätte er schwören können, das man ihn gerufen hatte. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015