Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Der Schrei des Vogel Bleib Mehrmals erwachte er in der Nacht. Sein Körper war von süßer Müdigkeit schwer, sein Geist aber war klar und frisch. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel der sich über ihm spannte. Die unzähligen Sterne glimmerten hell und in ihrer absoluten Ruhe waren sie von einer faszinierenden wie banalen Schönheit. Irgendwann waren die Sterne in einem bläulichen Grau verschwunden. Zaghaft erhob sich Vogelgezwitscher. Er drehte sich zur Seite an den Rand der Matte. Sein Atem wischte über den Staub und ließ Sandkörnchen tanzen. Eine Ameise durchsuchte ihre trocken Welt. Gedankenlos schaute er ihr zu. Er spürte das Leben in seinem Körper, fühlte sich atmen, horchte auf seinen Herzschlag und nahm den Geruch des Sandboden in sich auf. Tief einatmend konzentrierte er sich auf einen kleinen, mit Sand bedeckten Stein. Vorsichtig blies er die Körnchen hinunter. Die Fühler der Ameise zuckten suchend umher. Seinen Finger hielt er nun dicht über das Insekt, bereit es zu zerquetschen. Ganz langsam senkte er den Finger, während er dem Lauf der Ameise folgte. Wie überraschend der Tod zuschlagen konnte! Der Finger berührte die Ameise leicht. Sie drehte sich irritiert im Kreis als er ihn etwas entfernte. Dann blieb sie stehen, suchte mit ihren Fühlern kurz umher und eilte davon. Er richtete sich auf und lehnte sich an den schroffen Felsen, in dessen Windschatten sein Lagerplatz war. Über dem Gebirge und dem Meer leuchtete der Himmel immer kräftiger. Gleich würde die Sonne hinter den zur Küste abfallenden Bergen auftauchen. Ein kühler Lufthauch spielte um seine nackte Schulter. Seinen Kopf hatte er zurück gelehnt. Dabei drückte sich eine scharfkantige Spitze des Felsens in den Nacken. Langsam rieb er sich daran. Er kratzte und streichelte sich an dem rauhen Stein, der noch die Wärme des vergangenen Tages gespeichert hatte. Dann legte er seine Hand auf den Boden und mit gespreizten Finger fuhr er durch den seidigen, von der Nacht gekühlten Sand. Tief zog er die milde Luft ein, dabei beobachtend, wie direkt über ihm aus den Bergen Wolken zogen. Immer praller erstrahlten sie in knalligem Orange, während sie sich allmählich zum Meer hin auflösten. Aus der Bucht erhob sich plötzlich das Tuckern eines Fischkutters. Eine Melodie, die sich langsam aus dem dunklen Massiv der Felsenküste in das offene Meer verlagerte. Dort drüben, wo der Himmel zu brennen schien, lag Hora Sfakion. Das Licht einer Lampe hatte in der Nacht den Sternen wie zur Antwort gefunkelt. Doch während des Tages war von dem Küstenort nichts zu sehen. Und da war er wieder! Hoch über ihm schwebte der Vogel. In weiten Kreisen zog er durch die klare Luft. Plötzlich ließ er sich vom ablandigen Wind auf das Meer hinaus tragen. Der kleine Punkt verlor sich bald am Himmel. Das war der Vogel Bleib. Oder war es doch nur eine Möwe? Wind kam auf. Vom Meer kommend strich er kühl um den Felsen und ließ ihn frösteln. Er ruckelte sich den Schlafsack über sein Schulter bis hoch unter die Nase. Da tauchte die Sonne dicht bei der Küste aus dem Meer auf. Sein letzter Tag begann. Ein Tag und keine Nacht mehr; ein Tag, der schon kein richtiger mehr war, gekennzeichnet von diesem Termin. Bleib, schrie der Vogel. Er hatte es genau gehört. Bleib! Was hält dich davon ab? Wie erstarrt saß er am Felsen gelehnt, beobachtend, wie sich die Sonne vom Meer löste. Als sie eine handbreit über dem Wasser stand, dabei eine deutlich spürbare Andeutung ihrer südlichen Kraft verkündend, rekelte er sich aus seinem Schlafsack. Nun war der seewärtige Wind angenehm mild. Seine Wasserflasche war noch zu einem knappen Viertel gefüllt. Genug um sich zwei Tassen Kaffee zu kochen, nur Zähneputzen war dann nicht mehr möglich. Mit verschränkten Beinen auf dem Schlafsack sitzend, breitete er auf einer Plastiktüte sein Besteck aus, wühlte in dieser oder jener Tüte und entschied sich für den Kaffee. Die Zähne konnten noch warten. Die Steine des zerfallenen, venezianischen Kastell - in dessen Nähe er lagerte - leuchteten feurig im Morgenlicht und erhoben sich bizarr aus der Landzunge gegen den Himmel. Er blinzelte in die Sonne. Wie schön konnten Augenblicke sein. Bleib, dachte er - immer und ewig. Aber da schwand das zarte Glück, denn es verträgt keine Gedanken. Den Schafskäse bröselte er auf ein Stück Weißbrot. Aus einer halben Paprika schüttelte er die flachen Samenkörnchen, dann schnitt er die Schote in schmale Streifen. Das Wasser, in einem zerbeulten Leichtmetalltopf über einen Gaskocher erhitzt, brodelte. Nach dem Frühstück verstaute er das Geschirr und den zusammengerollten Schlafsack in den Rucksack, zog seine staubgrauen Schuhe über die nackten Füße und hockte sich auf den Felsen. Da fiel ihm die Ansichtskarte ein. Die eleganteste Sekunde des Sprunges zeigte das Bild. Es hatte sich in seine Erinnerung eingebrannt. Der Mann schien vor einem rauhen steilwandigen Felsen zu schweben. Seine Brust geschwollen, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht angespannt dem Horizont zugewandt, die Arme ausgebreitet. Wie der Sprung enden würde konnte er nur ahnen. Wahrscheinlich würde der Mann den Kopf zwischen die Arme nehmen und senkrecht ins Meer schießen. Ob das Bild überhaupt von dieser Insel stammte? Die Ansichtskarte hatte er an irgendeinem Kiosk neben einem Hotel gesehen. Vor ein paar Monaten war der Vater eines Freundes in den Alpen tödlich verunglückt. Zweihundert Meter im freien Fall. Auch daran dachte er in letzter Zeit häufig. Von den Berghängen meckerten Ziegen die sich in den für Menschen unzugänglichen Regionen über Nacht zurückgezogen hatten. Wenn ihm noch ein paar Tage blieben wollte er gerne noch einmal dort oben wandern und, hunderte Meter über dem Meer, erhabene Stille genießen. Wenn er dann auch Abends müde, ja erschlagen mit schmerzenden Gliedern zu seinem Lagerplatz zurückkommen würde, wäre dies allemal besser als den Weg zu gehen, den er heute gehen sollte. Bis zum späten Nachmittag mußte er in Hora Sfakion sein. Auf dem Fels sitzend konnte er in Richtung des Kastells bis zum Lagerplatz der beiden Mädchen schauen. Zusammengekauert lagen sie in ihren Schlafsäcken und schliefen noch. Sie hatten Zeit. Irgendwann - von der Sonnenwärme geweckt - würden sie langsam aufstehen. Beim Frühstücken würden sie entscheiden, ob sie noch einen Tag bleiben sollten oder schon heute mit dem Nachmittagsboot bis nach Agia Roumeli zu fahren. Ihnen blieben noch zehn Tage. Bis in den Oktober hinein, das hatten sie ihm unten in der Taverne bei Fisch und Wein erzählt. Die meisten Leute nahmen das Boot um zu den Orten zu gelangen. Er aber war von Agia Roumeli zu Fuß gekommen, eine knappe Tagestour weit. Der Weg verlief zum Teil dicht am Wasser entlang, dann wieder hoch über den steilen Hängen und Klippen der Küste. Nirgends Schatten. Nach Hora Sfakion war der Weg genauso, wenn auch kürzer. Eines der Mädchen bewegte sich. Also rutschte er vom Felsen, schulterte seinen Rucksack und ging zum Abhang, wo sich ein schmaler Weg ins Dorf hinabschlingelte. An dem Hang stehend drehte er sich um und schaute zu seinem verlassenen Lagerplatz, einer schmalen Sandfurche zwischen Steinen und dornigem Gestrüpp vor einem massiven Stein. Wer würde dort als nächstes lagern? Er schaute noch einmal hinüber zum Kastell. Ein Vogel erhob sich vom Turm, stieg schnell in die Höhe und stieß von Zeit zu Zeit diesen Schrei aus. Ja gerne, rief er dem Vogel nach. Über den Bergen waren keine Wolken mehr. Der Himmel leuchtete dunkelblau und in der Erinnerung sah er sie beim Kastell sitzen. Sie hatte gelacht. Das sei doch nur eine Möwe, hatte sie ihm erklärt. Ok, mit etwas Fantasie könnte man meinen, daß diese Möwe bleib rief. Er hatte sie an einem Nachmittag beim Kastell kennen gelernt. Sie saß im Schatten des Turmes und laß ein Buch. Als er fragte, zeigte sie ihm den Titel. "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins." Soeben erschienen, erklärte sie. Ihm fiel das Bild von der Ansichtskarte ein. Bis in den Abend saßen sie beim Kastell und unterhielten sich. Sie hatte Kunst studiert und arbeitete nun in einer Galerie. Er hatte ihr erzählt, daß er sich den ganzen Sommer in der Region, auch in Israel herum getrieben habe. Ein Abigeschenk seiner Eltern. Zunächst mit einem Freund, später allein. Nun mußte er nach Hause, weil er eine Lehre absolvieren müsse. Dann solle er studieren um anschließen den Betrieb seines Vaters zu übernehmen. Ein großer Betrieb mit ein paar hundert Beschäftigten. Ein Betrieb, der ihm alle Zeit und Freiheit nehmen würde. Und das möchtest du nicht, hatte sie gefragt. Ich weis nicht, sagte er. Der Betrieb steht gut da. Ich werde viel Geld haben... Ich habe nicht viel Geld, warf sie ein und deshalb habe ich auch wenig Zeit und Freiheit, um zu tun was ich möchte. Dann lachte sie. So sei das nun einmal. Wenn du Kunst studiert hast, sagte er nach einer Weile, mußt du das doch kennen, ich meine, das sich einem die Wirklichkeit manchmal anders als augenscheinlich zeigt. Wieder hatte sie gelacht und er hätte ihr am liebsten auf ihre Augen geküsst. Sind Menschen, die bis über beide Ohren verliebt sind deswegen Künstler, fragte sie und weil er nichts sagte, sondern nur aufs Meer schaute sagte sie, oder Menschen die voller Haß sind, sind sie deswegen Künstler? Zur Kunst gehört viel Arbeit und Disziplin, damit deine nichtaugenscheinliche Wirklichkeit zu einem verwertbaren Material werden kann. Sonst stürzt man ab, ergänzte er. Sie schaute ihn fragend an und er erklärte, das sei nur so ein Gedanke. Man verliert den Boden unter den Füßen, wenn man kein Künstler ist und einfach so herumläuft. In dieser anderen Wirklichkeit, meine ich. Ja, das kann schon sein, stimmte sie ihm zu. Zum Abschied sagte sie noch, das er ein seltsamer Vogel sei, der ihr hier zwischen den Steinen über dem Weg gelaufen sei. Dabei hatte sie wieder gelacht. Und nun war die Zeit um. Fast wäre er ausgerutscht, als er sich abrupt umdrehte um den schmalen Weg ins Dorf hinab zu steigen. Zwischen den fensterlosen Seitenwänden zweier dicht stehender Häuser führte der Weg auf die Mole. Ein kleines Boot mit einem tuckernden Außenbordmotor wurde soeben daran festgemacht. Heute Abend würde es also wieder frischen Fisch geben. Er ging bis zu dem Strand und setzte sich auf einem der Felsen, die aus dem Kiesel herausragten. Die Sonne hatte ihre pralle Röte verloren und weckte nun mit gleißendem Licht das Dorf. Aus eine der Tavernen klapperten Tische und Stühle, ein Mann fegte den holprigen Betonboden einer Terrasse, irgendwo kreischte ein Kind. Von schwacher Müdigkeit umfangen betrachtete er das Dorf, schaute hin und wieder zu dem blauen, fensterlosen Holztürchen des winzigen Geschäftes. Als die Tür von innen geöffnet wurden, erhob er sich, nahm seinen Rucksack und schlenderte an dem Kieselstrand entlang bis er in gleicher Höhe des Gebäudes war. Dann ging er direkt auf den Laden zu, stellte den Rucksack neben die Tür und betrat das Geschäft. Eine junge Frau zählte Geld und ein kleiner Junge hüpfte in dem Laden umher. Beide nahmen sein Eintreten mit einem flüchtigen Seitenblick war. Nur wenige Waren standen zur Auswahl: etwas Obst und Gemüse, ansonsten Konservendosen, Sonnenöle und Ansichtskarten. Über allem lag eine dünne Schicht Staub, die pelzig im Licht schimmerte. Er kaufte sich eine Flasche Wasser und zwei Äpfel. Zu seiner Überraschung stammte die Inhaberin des Ladens aus Tirol. Sie hatte in dem Dorf ein kleines Auskommen gefunden. Die Frau wünschte ihm eine gute Heimreise. Vor dem Laden schnürte er die Wasserflasche an seinen Rucksack und verstaute die Äpfel. In östliche Richtung verließ er das Dorf, wanderte über einen kleinen Hügel und gelangte nach einer halben Stunde zur anderen Seite der Bucht. Friedlich und sein Fortgehen nicht wahrnehmend lag das Dorf im Sonnenlicht vor dem glitzernden Wasser. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete Touristen, die am Ufer promenierten. Einige ließen sich langsam in den Tavernen zum Frühstück nieder. Bis zu dem Sandstrand unter hohen Felsen war der Weg nicht besonders schwierig und gut zu laufen. Er führte dicht an der Küste entlang, mal direkt am Wasser, dann wieder hoch über dem Meer. Am Strand entschied er sich, ein paar Stunden zu bleiben. Noch hatte er Zeit und wollte die Gelegenheit nutzen, um noch einmal zu baden. In den Felsen befanden sich kleine Höhlen, die von Rucksacktouristen zum Quartier genommen waren. Langsam krochen sie aus ihren Schlafsäcken, bereiteten sich etwas zu essen, putzten mit dem Wasser aus der Süßwasserquelle ihre Zähne oder sprangen in das Meer um zu plantschen. Er zog sich aus und legte sich auf seine Strohmatte. Die Wanderung mit dem schweren Rucksack so früh in der Hitze hatte ihn schon etwas ermüdet und so döste er, halb schlafend, halb wachend, dabei die brennenden Strahlen der Sonne auf seinem Körper spürend - wie eine sanfte Massage. Er lauschte dem leisen plätschern der Wellen und er hörte Leute an sich vorbeiwandern; er hörte ihre Stimmen, die sich mit denen der Strandbewohner mischten, er hörte wie sich Leute in seiner Nähe niederließen, ihre Sachen auspackten, sich entkleideten und mit Sonnenöl einrieben; er blinzelte einen Moment zu ihnen hinüber und sah nackte, gebräunte Körper in der Sonne glänzen, dann döste er wieder ein, wurde wach, schlief ein und wachte plötzlich schweißgebadet auf. Nur langsam kam er zu Bewußtsein wo er war. Er richtete sich auf und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Er mußte aufpassen nicht zu lange in der prallen Sonne zu liegen. Nachdem sich sein Kreislauf beruhigt hatte, stand er auf und streckte sich. Die Sonne prallte fast steil vom Himmel, wenn auch der Horizont in grauem Dunst versank. Es war windstill, die Luft stand in ihrem eigenen Glast. Er schlenderte bis zum Wasser, ließ seine Füße von den sanft auslaufenden Wellen umspülen und watete dann soweit ins Meer, das er schwimmen konnte. Dann drehte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Die Leichtigkeit aber fehlte, mit der er sich in den vergangenen Wochen vom Meer hatte tragen lassen. Seine Schwimmzüge kamen ihm verkrampft vor, wie ein lustlos vollzogenes Ritual. Also schwamm er an das Ufer zurück und setzte sich an den Strand. Am südwestlichen Horizont tauchte ein Frachtschiff auf, das kaum sichtbar im fernen Dunst bedächtig ostwärts zog. Nachdem die Sonne seinen Körper getrocknet hatte aß er die Äpfel. Ihr Saft spritzte ihm ins Gesicht und tropfte ihm aus dem Mundwinkel auf den Bauch und die Oberschenkel, um sich dort mit dem Salz auf seiner Haut zu vermischen. Mit seinem Handtuch wischte er sich die klebrige Mischung vom Körper. Das war es dann wohl, murmelte er, zog sich an und setzte seine Wanderung fort. Am Ende des Strandes deuteten hin und wieder rote Farbmakierungen auf den Steinen den weiteren Verlauf des Weges an. Das Meer war plötzlich unruhig geworden. Wellen schlugen gegen die Steine und manchmal spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Er mußte sich mühsam zwischen den massiven Felsen hindurch zwängen. An einer Stelle drängte sich der Steilhang soweit an das Wasser heran, das er sich, eine ruhige Phase der Brandung abwartend, nur mit Mühe trockenen Fußes und ohne zu stürzen, an der Wand entlang hangeln konnte. Er wuchtete seinen Rucksack nach, das er besser saß und setzte seinen Weg fort. Nach etlichen Metern des Balancierens über grobe Steine in der Gischt der immer heftiger anbrandenden Wellen, wiesen die Farbmakierungen zu einem Rinnsal, der den Anfang des Weges die Wand hinauf makierte. Kaum das er der feuchten, dabei kühlenden Nähe des Wassers entstiegen war, spürte er die volle Kraft der Sonne. Seine Kleidungsstücke waren schnell schweißdurchnässt. Der Pfad verlief teilweise so steil, das er sich in einer vornübergebeugten Haltung den Hang hinauf mühte, wobei er - ohne sich sonderlich zu bücken - den Weg vor sich berühren konnte. Polternd stürzten einzelne, losgetretene Steine in die Tiefe. Das Brausen der Brandung verlor zunehmend an Kraft je höher er kam. Obgleich ihm der Schweiß aus allen Poren strömte und es immer weiter hinaufging, immer höher ohne ein Ende nehmen zu wollen, stieg er Schritt um Schritt ohne zu ermüden. Er fühlte sich wie hinaufgetragen. Sein Körper hatte sich an die Wanderungen unter heißer Sonne gewöhnt. Hinter einem besonders steilen Abschnitt verlief der Weg plötzlich eben. Auch war er viel breiter als zuvor. Ein gute Stelle um eine kleine Pause einzulegen und auch um die Aussicht zu genießen. Mit einem Schwenke ließ er den Rucksack auf den Boden gleiten und plazierte ihn an der Felswand, die vom Pfad aufsteigend bis in den Himmel zu reichen schien. Er setzte die Wasserflasche an und mit ein paar kräftigen Zügen leerte er sie zu einem Drittel. Sogleich schoß aus seinem Körper der Schweiß. An den Felsen entlang säuselnder Wind kühlte, so das er für einen Augenblick sogar fröstelte. Der Himmel im Westen schien von der Sonne fast gefüllt. Weit draußen am Horizont konnte er noch eben das Frachtschiff im fahlen Dunst eintauchen sehen. Verlassen lag das Meer nun zu seinen Füßen - wie die Ewigkeit. Zum Horizont hin war das Wasser blau und tausendfach spiegelte sich das Sonnenlicht in kleinen, silbern blitzenden Kämmen. Mehr zur Küste hin nahm das Wasser verschiedene Farben an: blau, grau, an manchen Stellen smaragdfarbend. Und überall waren schwarze Flecken zu sehen. Sie stammten von Felsen, die bis dicht unter die Wasseroberfläche ragten. Wo sie aus dem Wasser schauten, schäumte das Meer. Vor seinen Füßen tief unten schlug die Brandung wütend an die Felsküste zwischen all' den losgebrochenen Steinen, die sich noch scharfkantig behaupteten. Sein Atem war ruhiger geworden. Er stellte die Wasserflasche neben den Rucksack und schabte mit den Füßen über den Weg. Ein paar Kiesel rollten den Pfad hinab und verloren sich irgendwo im Geröll. Dann brach er einen größeren Stein aus dem Weg und drängte ihn an den Rand des Abhanges. Doch bevor er ihn postiert hatte, rollte der Stein langsam - wie von einer geheimnisvollen Kraft getrieben - zur Felswand und dann einige Meter den Weg zurück. Er schaute dem Stein nach, wie einem Tier, das sich verflüchtete, als fürchtete es die Tiefe. Ein paar hundert Meter vor ihm erhob sich ein Vogel aus den Felsen und zog im Gleitflug dicht über der schäumenden Brandung die Küste entlang, bis er nahe an ihn herangekommen war. Dann schwenkte der Vogel auf das offene Meer hinaus, flog dem Horizont entgegen bis nur noch ein kleiner Punkte zu erkennen war, der sich in einem weiten Bogen der Küste wieder näherte und der - vom Aufwind getragen - irgendwo an der Felswand landete. Er bückte sich und zerrte mit beiden Händen einen handtellergroßen Stein aus der brüchigen Felswand. Ruhig, als wäre es ein Kunstwerk, beschaute er sich das Bruchstück von allen Seiten. Die Oberfläche war porig, aber sonst war der Stein hart. Wieviel Leben sich wohl in den winzigen Schlünden, Ritzen und Höhlungen verbarg? Mikroskopisch winziges Leben, für das dieser Stein so groß war wie für ihn die Felsenküste. Er hohlte aus und warf den Stein in einem weiten Bogen über den Abgrund. Dabei erinnerte er sich der Postkarte, während der Stein sich schnell drehend der Brandung entgegen stürzte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierund... - lautlos gegen das Dröhnen der Brandung zersplitterte der Stein auf einem stumpf aus dem Meer ragenden Felsen und einen Moment tänzelten seine Splitter in der Luft, bevor sie in das Meer eintauchten. Drei Sekunden, gut drei Sekunden, dachte er, so tief ist es hier! Er stellte sich eine Zahlenreihe vor. Vom Minus in den Plusbereich. Nicht weit ins Plus: nur drei, vier Stellen, das würde reichen, bis dahin, dann würde es aus sein. Er schloß die Augen und zählte, konzentriert auf jeden Moment, dann spürte er einen Windzug vom Meer heraufkommend, das Gedächtnisbild der Küste verblaßte, machte Platz für eine wage Erinnerung. Plötzlich dieser Schrei. Er öffnete die Augen und starrte in den Himmel. Hoch über ihm kreiste ein Vogel. Er schaute ihm nach, mit seinem Blick folgte er der Möwe aufs Meer, von wo sie nochmals rief. Ja, ich bleib; keine Sorge, rief er ihr verhalten nach, trat vom Abhang zurück und lehnte sich erschöpft gegen die Felswand. Vor seinen Augen flimmerten schwarze Flecken und kalter Schweiß bildete sich ihm auf der Stirn. Langsam erholte er sich. Der Schweiß juckte und fahrig wischte er ihn ab. Dann zog er sich seinen Rucksack auf den Rücken und stieg den Weg weiter hinauf. Nun spürte er wie ausgelaugt er war. Der Weg wurde flacher und bald schon konnte er die Straße sehen. Aus der Ferne hörte er einen Bus mit gequältem Motor nahen. Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Hora Sfakion. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Der Schrei des Vogel Bleib Mehrmals erwachte er in der Nacht. Sein Körper war von süßer Müdigkeit schwer, sein Geist aber war klar und frisch. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel der sich über ihm spannte. Die unzähligen Sterne glimmerten hell und in ihrer absoluten Ruhe waren sie von einer faszinierenden wie banalen Schönheit. Irgendwann waren die Sterne in einem bläulichen Grau verschwunden. Zaghaft erhob sich Vogelgezwitscher. Er drehte sich zur Seite an den Rand der Matte. Sein Atem wischte über den Staub und ließ Sandkörnchen tanzen. Eine Ameise durchsuchte ihre trocken Welt. Gedankenlos schaute er ihr zu. Er spürte das Leben in seinem Körper, fühlte sich atmen, horchte auf seinen Herzschlag und nahm den Geruch des Sandboden in sich auf. Tief einatmend konzentrierte er sich auf einen kleinen, mit Sand bedeckten Stein. Vorsichtig blies er die Körnchen hinunter. Die Fühler der Ameise zuckten suchend umher. Seinen Finger hielt er nun dicht über das Insekt, bereit es zu zerquetschen. Ganz langsam senkte er den Finger, während er dem Lauf der Ameise folgte. Wie überraschend der Tod zuschlagen konnte! Der Finger berührte die Ameise leicht. Sie drehte sich irritiert im Kreis als er ihn etwas entfernte. Dann blieb sie stehen, suchte mit ihren Fühlern kurz umher und eilte davon. Er richtete sich auf und lehnte sich an den schroffen Felsen, in dessen Windschatten sein Lagerplatz war. Über dem Gebirge und dem Meer leuchtete der Himmel immer kräftiger. Gleich würde die Sonne hinter den zur Küste abfallenden Bergen auftauchen. Ein kühler Lufthauch spielte um seine nackte Schulter. Seinen Kopf hatte er zurück gelehnt. Dabei drückte sich eine scharfkantige Spitze des Felsens in den Nacken. Langsam rieb er sich daran. Er kratzte und streichelte sich an dem rauhen Stein, der noch die Wärme des vergangenen Tages gespeichert hatte. Dann legte er seine Hand auf den Boden und mit gespreizten Finger fuhr er durch den seidigen, von der Nacht gekühlten Sand. Tief zog er die milde Luft ein, dabei beobachtend, wie direkt über ihm aus den Bergen Wolken zogen. Immer praller erstrahlten sie in knalligem Orange, während sie sich allmählich zum Meer hin auflösten. Aus der Bucht erhob sich plötzlich das Tuckern eines Fischkutters. Eine Melodie, die sich langsam aus dem dunklen Massiv der Felsenküste in das offene Meer verlagerte. Dort drüben, wo der Himmel zu brennen schien, lag Hora Sfakion. Das Licht einer Lampe hatte in der Nacht den Sternen wie zur Antwort gefunkelt. Doch während des Tages war von dem Küstenort nichts zu sehen. Und da war er wieder! Hoch über ihm schwebte der Vogel. In weiten Kreisen zog er durch die klare Luft. Plötzlich ließ er sich vom ablandigen Wind auf das Meer hinaus tragen. Der kleine Punkt verlor sich bald am Himmel. Das war der Vogel Bleib. Oder war es doch nur eine Möwe? Wind kam auf. Vom Meer kommend strich er kühl um den Felsen und ließ ihn frösteln. Er ruckelte sich den Schlafsack über sein Schulter bis hoch unter die Nase. Da tauchte die Sonne dicht bei der Küste aus dem Meer auf. Sein letzter Tag begann. Ein Tag und keine Nacht mehr; ein Tag, der schon kein richtiger mehr war, gekennzeichnet von diesem Termin. Bleib, schrie der Vogel. Er hatte es genau gehört. Bleib! Was hält dich davon ab? Wie erstarrt saß er am Felsen gelehnt, beobachtend, wie sich die Sonne vom Meer löste. Als sie eine handbreit über dem Wasser stand, dabei eine deutlich spürbare Andeutung ihrer südlichen Kraft verkündend, rekelte er sich aus seinem Schlafsack. Nun war der seewärtige Wind angenehm mild. Seine Wasserflasche war noch zu einem knappen Viertel gefüllt. Genug um sich zwei Tassen Kaffee zu kochen, nur Zähneputzen war dann nicht mehr möglich. Mit verschränkten Beinen auf dem Schlafsack sitzend, breitete er auf einer Plastiktüte sein Besteck aus, wühlte in dieser oder jener Tüte und entschied sich für den Kaffee. Die Zähne konnten noch warten. Die Steine des zerfallenen, venezianischen Kastell - in dessen Nähe er lagerte - leuchteten feurig im Morgenlicht und erhoben sich bizarr aus der Landzunge gegen den Himmel. Er blinzelte in die Sonne. Wie schön konnten Augenblicke sein. Bleib, dachte er - immer und ewig. Aber da schwand das zarte Glück, denn es verträgt keine Gedanken. Den Schafskäse bröselte er auf ein Stück Weißbrot. Aus einer halben Paprika schüttelte er die flachen Samenkörnchen, dann schnitt er die Schote in schmale Streifen. Das Wasser, in einem zerbeulten Leichtmetalltopf über einen Gaskocher erhitzt, brodelte. Nach dem Frühstück verstaute er das Geschirr und den zusammengerollten Schlafsack in den Rucksack, zog seine staubgrauen Schuhe über die nackten Füße und hockte sich auf den Felsen. Da fiel ihm die Ansichtskarte ein. Die eleganteste Sekunde des Sprunges zeigte das Bild. Es hatte sich in seine Erinnerung eingebrannt. Der Mann schien vor einem rauhen steilwandigen Felsen zu schweben. Seine Brust geschwollen, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht angespannt dem Horizont zugewandt, die Arme ausgebreitet. Wie der Sprung enden würde konnte er nur ahnen. Wahrscheinlich würde der Mann den Kopf zwischen die Arme nehmen und senkrecht ins Meer schießen. Ob das Bild überhaupt von dieser Insel stammte? Die Ansichtskarte hatte er an irgendeinem Kiosk neben einem Hotel gesehen. Vor ein paar Monaten war der Vater eines Freundes in den Alpen tödlich verunglückt. Zweihundert Meter im freien Fall. Auch daran dachte er in letzter Zeit häufig. Von den Berghängen meckerten Ziegen die sich in den für Menschen unzugänglichen Regionen über Nacht zurückgezogen hatten. Wenn ihm noch ein paar Tage blieben wollte er gerne noch einmal dort oben wandern und, hunderte Meter über dem Meer, erhabene Stille genießen. Wenn er dann auch Abends müde, ja erschlagen mit schmerzenden Gliedern zu seinem Lagerplatz zurückkommen würde, wäre dies allemal besser als den Weg zu gehen, den er heute gehen sollte. Bis zum späten Nachmittag mußte er in Hora Sfakion sein. Auf dem Fels sitzend konnte er in Richtung des Kastells bis zum Lagerplatz der beiden Mädchen schauen. Zusammengekauert lagen sie in ihren Schlafsäcken und schliefen noch. Sie hatten Zeit. Irgendwann - von der Sonnenwärme geweckt - würden sie langsam aufstehen. Beim Frühstücken würden sie entscheiden, ob sie noch einen Tag bleiben sollten oder schon heute mit dem Nachmittagsboot bis nach Agia Roumeli zu fahren. Ihnen blieben noch zehn Tage. Bis in den Oktober hinein, das hatten sie ihm unten in der Taverne bei Fisch und Wein erzählt. Die meisten Leute nahmen das Boot um zu den Orten zu gelangen. Er aber war von Agia Roumeli zu Fuß gekommen, eine knappe Tagestour weit. Der Weg verlief zum Teil dicht am Wasser entlang, dann wieder hoch über den steilen Hängen und Klippen der Küste. Nirgends Schatten. Nach Hora Sfakion war der Weg genauso, wenn auch kürzer. Eines der Mädchen bewegte sich. Also rutschte er vom Felsen, schulterte seinen Rucksack und ging zum Abhang, wo sich ein schmaler Weg ins Dorf hinabschlingelte. An dem Hang stehend drehte er sich um und schaute zu seinem verlassenen Lagerplatz, einer schmalen Sandfurche zwischen Steinen und dornigem Gestrüpp vor einem massiven Stein. Wer würde dort als nächstes lagern? Er schaute noch einmal hinüber zum Kastell. Ein Vogel erhob sich vom Turm, stieg schnell in die Höhe und stieß von Zeit zu Zeit diesen Schrei aus. Ja gerne, rief er dem Vogel nach. Über den Bergen waren keine Wolken mehr. Der Himmel leuchtete dunkelblau und in der Erinnerung sah er sie beim Kastell sitzen. Sie hatte gelacht. Das sei doch nur eine Möwe, hatte sie ihm erklärt. Ok, mit etwas Fantasie könnte man meinen, daß diese Möwe bleib rief. Er hatte sie an einem Nachmittag beim Kastell kennen gelernt. Sie saß im Schatten des Turmes und laß ein Buch. Als er fragte, zeigte sie ihm den Titel. "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins." Soeben erschienen, erklärte sie. Ihm fiel das Bild von der Ansichtskarte ein. Bis in den Abend saßen sie beim Kastell und unterhielten sich. Sie hatte Kunst studiert und arbeitete nun in einer Galerie. Er hatte ihr erzählt, daß er sich den ganzen Sommer in der Region, auch in Israel herum getrieben habe. Ein Abigeschenk seiner Eltern. Zunächst mit einem Freund, später allein. Nun mußte er nach Hause, weil er eine Lehre absolvieren müsse. Dann solle er studieren um anschließen den Betrieb seines Vaters zu übernehmen. Ein großer Betrieb mit ein paar hundert Beschäftigten. Ein Betrieb, der ihm alle Zeit und Freiheit nehmen würde. Und das möchtest du nicht, hatte sie gefragt. Ich weis nicht, sagte er. Der Betrieb steht gut da. Ich werde viel Geld haben... Ich habe nicht viel Geld, warf sie ein und deshalb habe ich auch wenig Zeit und Freiheit, um zu tun was ich möchte. Dann lachte sie. So sei das nun einmal. Wenn du Kunst studiert hast, sagte er nach einer Weile, mußt du das doch kennen, ich meine, das sich einem die Wirklichkeit manchmal anders als augenscheinlich zeigt. Wieder hatte sie gelacht und er hätte ihr am liebsten auf ihre Augen geküsst. Sind Menschen, die bis über beide Ohren verliebt sind deswegen Künstler, fragte sie und weil er nichts sagte, sondern nur aufs Meer schaute sagte sie, oder Menschen die voller Haß sind, sind sie deswegen Künstler? Zur Kunst gehört viel Arbeit und Disziplin, damit deine nichtaugenscheinliche Wirklichkeit zu einem verwertbaren Material werden kann. Sonst stürzt man ab, ergänzte er. Sie schaute ihn fragend an und er erklärte, das sei nur so ein Gedanke. Man verliert den Boden unter den Füßen, wenn man kein Künstler ist und einfach so herumläuft. In dieser anderen Wirklichkeit, meine ich. Ja, das kann schon sein, stimmte sie ihm zu. Zum Abschied sagte sie noch, das er ein seltsamer Vogel sei, der ihr hier zwischen den Steinen über dem Weg gelaufen sei. Dabei hatte sie wieder gelacht. Und nun war die Zeit um. Fast wäre er ausgerutscht, als er sich abrupt umdrehte um den schmalen Weg ins Dorf hinab zu steigen. Zwischen den fensterlosen Seitenwänden zweier dicht stehender Häuser führte der Weg auf die Mole. Ein kleines Boot mit einem tuckernden Außenbordmotor wurde soeben daran festgemacht. Heute Abend würde es also wieder frischen Fisch geben. Er ging bis zu dem Strand und setzte sich auf einem der Felsen, die aus dem Kiesel herausragten. Die Sonne hatte ihre pralle Röte verloren und weckte nun mit gleißendem Licht das Dorf. Aus eine der Tavernen klapperten Tische und Stühle, ein Mann fegte den holprigen Betonboden einer Terrasse, irgendwo kreischte ein Kind. Von schwacher Müdigkeit umfangen betrachtete er das Dorf, schaute hin und wieder zu dem blauen, fensterlosen Holztürchen des winzigen Geschäftes. Als die Tür von innen geöffnet wurden, erhob er sich, nahm seinen Rucksack und schlenderte an dem Kieselstrand entlang bis er in gleicher Höhe des Gebäudes war. Dann ging er direkt auf den Laden zu, stellte den Rucksack neben die Tür und betrat das Geschäft. Eine junge Frau zählte Geld und ein kleiner Junge hüpfte in dem Laden umher. Beide nahmen sein Eintreten mit einem flüchtigen Seitenblick war. Nur wenige Waren standen zur Auswahl: etwas Obst und Gemüse, ansonsten Konservendosen, Sonnenöle und Ansichtskarten. Über allem lag eine dünne Schicht Staub, die pelzig im Licht schimmerte. Er kaufte sich eine Flasche Wasser und zwei Äpfel. Zu seiner Überraschung stammte die Inhaberin des Ladens aus Tirol. Sie hatte in dem Dorf ein kleines Auskommen gefunden. Die Frau wünschte ihm eine gute Heimreise. Vor dem Laden schnürte er die Wasserflasche an seinen Rucksack und verstaute die Äpfel. In östliche Richtung verließ er das Dorf, wanderte über einen kleinen Hügel und gelangte nach einer halben Stunde zur anderen Seite der Bucht. Friedlich und sein Fortgehen nicht wahrnehmend lag das Dorf im Sonnenlicht vor dem glitzernden Wasser. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete Touristen, die am Ufer promenierten. Einige ließen sich langsam in den Tavernen zum Frühstück nieder. Bis zu dem Sandstrand unter hohen Felsen war der Weg nicht besonders schwierig und gut zu laufen. Er führte dicht an der Küste entlang, mal direkt am Wasser, dann wieder hoch über dem Meer. Am Strand entschied er sich, ein paar Stunden zu bleiben. Noch hatte er Zeit und wollte die Gelegenheit nutzen, um noch einmal zu baden. In den Felsen befanden sich kleine Höhlen, die von Rucksacktouristen zum Quartier genommen waren. Langsam krochen sie aus ihren Schlafsäcken, bereiteten sich etwas zu essen, putzten mit dem Wasser aus der Süßwasserquelle ihre Zähne oder sprangen in das Meer um zu plantschen. Er zog sich aus und legte sich auf seine Strohmatte. Die Wanderung mit dem schweren Rucksack so früh in der Hitze hatte ihn schon etwas ermüdet und so döste er, halb schlafend, halb wachend, dabei die brennenden Strahlen der Sonne auf seinem Körper spürend - wie eine sanfte Massage. Er lauschte dem leisen plätschern der Wellen und er hörte Leute an sich vorbeiwandern; er hörte ihre Stimmen, die sich mit denen der Strandbewohner mischten, er hörte wie sich Leute in seiner Nähe niederließen, ihre Sachen auspackten, sich entkleideten und mit Sonnenöl einrieben; er blinzelte einen Moment zu ihnen hinüber und sah nackte, gebräunte Körper in der Sonne glänzen, dann döste er wieder ein, wurde wach, schlief ein und wachte plötzlich schweißgebadet auf. Nur langsam kam er zu Bewußtsein wo er war. Er richtete sich auf und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Er mußte aufpassen nicht zu lange in der prallen Sonne zu liegen. Nachdem sich sein Kreislauf beruhigt hatte, stand er auf und streckte sich. Die Sonne prallte fast steil vom Himmel, wenn auch der Horizont in grauem Dunst versank. Es war windstill, die Luft stand in ihrem eigenen Glast. Er schlenderte bis zum Wasser, ließ seine Füße von den sanft auslaufenden Wellen umspülen und watete dann soweit ins Meer, das er schwimmen konnte. Dann drehte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Die Leichtigkeit aber fehlte, mit der er sich in den vergangenen Wochen vom Meer hatte tragen lassen. Seine Schwimmzüge kamen ihm verkrampft vor, wie ein lustlos vollzogenes Ritual. Also schwamm er an das Ufer zurück und setzte sich an den Strand. Am südwestlichen Horizont tauchte ein Frachtschiff auf, das kaum sichtbar im fernen Dunst bedächtig ostwärts zog. Nachdem die Sonne seinen Körper getrocknet hatte aß er die Äpfel. Ihr Saft spritzte ihm ins Gesicht und tropfte ihm aus dem Mundwinkel auf den Bauch und die Oberschenkel, um sich dort mit dem Salz auf seiner Haut zu vermischen. Mit seinem Handtuch wischte er sich die klebrige Mischung vom Körper. Das war es dann wohl, murmelte er, zog sich an und setzte seine Wanderung fort. Am Ende des Strandes deuteten hin und wieder rote Farbmakierungen auf den Steinen den weiteren Verlauf des Weges an. Das Meer war plötzlich unruhig geworden. Wellen schlugen gegen die Steine und manchmal spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Er mußte sich mühsam zwischen den massiven Felsen hindurch zwängen. An einer Stelle drängte sich der Steilhang soweit an das Wasser heran, das er sich, eine ruhige Phase der Brandung abwartend, nur mit Mühe trockenen Fußes und ohne zu stürzen, an der Wand entlang hangeln konnte. Er wuchtete seinen Rucksack nach, das er besser saß und setzte seinen Weg fort. Nach etlichen Metern des Balancierens über grobe Steine in der Gischt der immer heftiger anbrandenden Wellen, wiesen die Farbmakierungen zu einem Rinnsal, der den Anfang des Weges die Wand hinauf makierte. Kaum das er der feuchten, dabei kühlenden Nähe des Wassers entstiegen war, spürte er die volle Kraft der Sonne. Seine Kleidungsstücke waren schnell schweißdurchnässt. Der Pfad verlief teilweise so steil, das er sich in einer vornübergebeugten Haltung den Hang hinauf mühte, wobei er - ohne sich sonderlich zu bücken - den Weg vor sich berühren konnte. Polternd stürzten einzelne, losgetretene Steine in die Tiefe. Das Brausen der Brandung verlor zunehmend an Kraft je höher er kam. Obgleich ihm der Schweiß aus allen Poren strömte und es immer weiter hinaufging, immer höher ohne ein Ende nehmen zu wollen, stieg er Schritt um Schritt ohne zu ermüden. Er fühlte sich wie hinaufgetragen. Sein Körper hatte sich an die Wanderungen unter heißer Sonne gewöhnt. Hinter einem besonders steilen Abschnitt verlief der Weg plötzlich eben. Auch war er viel breiter als zuvor. Ein gute Stelle um eine kleine Pause einzulegen und auch um die Aussicht zu genießen. Mit einem Schwenke ließ er den Rucksack auf den Boden gleiten und plazierte ihn an der Felswand, die vom Pfad aufsteigend bis in den Himmel zu reichen schien. Er setzte die Wasserflasche an und mit ein paar kräftigen Zügen leerte er sie zu einem Drittel. Sogleich schoß aus seinem Körper der Schweiß. An den Felsen entlang säuselnder Wind kühlte, so das er für einen Augenblick sogar fröstelte. Der Himmel im Westen schien von der Sonne fast gefüllt. Weit draußen am Horizont konnte er noch eben das Frachtschiff im fahlen Dunst eintauchen sehen. Verlassen lag das Meer nun zu seinen Füßen - wie die Ewigkeit. Zum Horizont hin war das Wasser blau und tausendfach spiegelte sich das Sonnenlicht in kleinen, silbern blitzenden Kämmen. Mehr zur Küste hin nahm das Wasser verschiedene Farben an: blau, grau, an manchen Stellen smaragdfarbend. Und überall waren schwarze Flecken zu sehen. Sie stammten von Felsen, die bis dicht unter die Wasseroberfläche ragten. Wo sie aus dem Wasser schauten, schäumte das Meer. Vor seinen Füßen tief unten schlug die Brandung wütend an die Felsküste zwischen all' den losgebrochenen Steinen, die sich noch scharfkantig behaupteten. Sein Atem war ruhiger geworden. Er stellte die Wasserflasche neben den Rucksack und schabte mit den Füßen über den Weg. Ein paar Kiesel rollten den Pfad hinab und verloren sich irgendwo im Geröll. Dann brach er einen größeren Stein aus dem Weg und drängte ihn an den Rand des Abhanges. Doch bevor er ihn postiert hatte, rollte der Stein langsam - wie von einer geheimnisvollen Kraft getrieben - zur Felswand und dann einige Meter den Weg zurück. Er schaute dem Stein nach, wie einem Tier, das sich verflüchtete, als fürchtete es die Tiefe. Ein paar hundert Meter vor ihm erhob sich ein Vogel aus den Felsen und zog im Gleitflug dicht über der schäumenden Brandung die Küste entlang, bis er nahe an ihn herangekommen war. Dann schwenkte der Vogel auf das offene Meer hinaus, flog dem Horizont entgegen bis nur noch ein kleiner Punkte zu erkennen war, der sich in einem weiten Bogen der Küste wieder näherte und der - vom Aufwind getragen - irgendwo an der Felswand landete. Er bückte sich und zerrte mit beiden Händen einen handtellergroßen Stein aus der brüchigen Felswand. Ruhig, als wäre es ein Kunstwerk, beschaute er sich das Bruchstück von allen Seiten. Die Oberfläche war porig, aber sonst war der Stein hart. Wieviel Leben sich wohl in den winzigen Schlünden, Ritzen und Höhlungen verbarg? Mikroskopisch winziges Leben, für das dieser Stein so groß war wie für ihn die Felsenküste. Er hohlte aus und warf den Stein in einem weiten Bogen über den Abgrund. Dabei erinnerte er sich der Postkarte, während der Stein sich schnell drehend der Brandung entgegen stürzte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierund... - lautlos gegen das Dröhnen der Brandung zersplitterte der Stein auf einem stumpf aus dem Meer ragenden Felsen und einen Moment tänzelten seine Splitter in der Luft, bevor sie in das Meer eintauchten. Drei Sekunden, gut drei Sekunden, dachte er, so tief ist es hier! Er stellte sich eine Zahlenreihe vor. Vom Minus in den Plusbereich. Nicht weit ins Plus: nur drei, vier Stellen, das würde reichen, bis dahin, dann würde es aus sein. Er schloß die Augen und zählte, konzentriert auf jeden Moment, dann spürte er einen Windzug vom Meer heraufkommend, das Gedächtnisbild der Küste verblaßte, machte Platz für eine wage Erinnerung. Plötzlich dieser Schrei. Er öffnete die Augen und starrte in den Himmel. Hoch über ihm kreiste ein Vogel. Er schaute ihm nach, mit seinem Blick folgte er der Möwe aufs Meer, von wo sie nochmals rief. Ja, ich bleib; keine Sorge, rief er ihr verhalten nach, trat vom Abhang zurück und lehnte sich erschöpft gegen die Felswand. Vor seinen Augen flimmerten schwarze Flecken und kalter Schweiß bildete sich ihm auf der Stirn. Langsam erholte er sich. Der Schweiß juckte und fahrig wischte er ihn ab. Dann zog er sich seinen Rucksack auf den Rücken und stieg den Weg weiter hinauf. Nun spürte er wie ausgelaugt er war. Der Weg wurde flacher und bald schon konnte er die Straße sehen. Aus der Ferne hörte er einen Bus mit gequältem Motor nahen. Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Hora Sfakion. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015