Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Blau gegen Rot Die Anhöhe entdecken ich auf einer meiner Erkundungstouren mit dem Fahrrad. Glück hatte ich auch, als ich sofort die Genehmigung bekam, diesen idyllischen Platz zu betreten: "Gut, du darfst hier bleiben und auch wiederkommen, wenn es dir gefällt", hatte der kleine Junge gesagt, und dabei immer wieder zu dem Mädchen hinüber geblinzelt, als müsste er sich seiner Entscheidung vergewissern. Die Kinder waren vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Unverhofft waren sie aus dem Gebüsch gekommen und hatten mich zunächst mit bösem Blick gemustert. Dann hatten sie mich gefragt, wer ich sei und was ich hier wollte. Sie erklärten, daß dieses Grundstück ihnen gehören würde (zumindest aber ihren Eltern), und das viele Tiere, vor allem Vögel aber auch Maulwürfe und Kaninchen ihre Nester und Baue hier haben würden. Deshalb müsse ich mich ruhig verhalten, wenn ich hier her käme. Nach dieser eindringlichen Mahnung waren sie gleich wieder im dichten Unterholz auf geheimnisvollen Pfaden verschwunden. Auf der Anhöhe verweilte ich von nun an immer wenn ich bei schönem Wetter einen Ausflug machte. Der weitläufige Mischwald endete dort abrupt und gab den Blick auf die Umgebung frei, mit ausgedehnten Feldern, Wiesen und Äcker. Und halb rechts, im Südwesten, schimmerten die rotbraunen Dächer eines kleinen Dorfes zwischen den Bäumen hindurch. Nur wenn der Wind aus dem Südosten kam, brachte er etwas von dem dröhnenden Rauschen der fernen Autobahn. Wie auch an jenem Morgen im November, an dem ich schon früh losgefahren war. Fast eine Woche lang hatte es geregnet, doch über Nacht setzte sich ein aus dem Osten kommendes "Hoch" durch und es gab Bodenfrost. Auf den Pfützen schimmerte Eis, der aufgeweichte, matschige Waldboden knirschte wie gefrorener Schnee und die Wiesen waren vom Rauhreif gezuckert. Kaum hatte ich die Anhöhe erreicht und mein Fahrrad nahe der umgeknickten Kiefer hinter den Tannen gestellt, mischte sich unter das ferne Rauschen der Autobahn ein Geräusch, das ich mir zuerst nicht erklären konnte. Es waren patschende und knatterndes Töne. Doch da erinnerte ich mich: Das war der Lärm automatischer Waffen, durchsetzt vom dumpfen Krachen der Geschütze. Die "Roten" versuchten das Dorf einzunehmen - so hatte es in der Zeitung gestanden -, und auch, daß die Bevölkerung um Verständnis gebeten wurde, sollten durch übende Verbände Belästigungen auftreten. Betrübt, ja wütend stampfte ich zu meinem Fahrrad zurück um mich auf die Heimfahrt zu begeben, als sich plötzlich ein Auto mit heulendem Motor kämpferisch über den zerfurchten Weg näherte. Ich blieb lauschend bei meinem Fahrrad hinter einer Tanne stehen. Nur ungefähr fünfzig Meter von meinem Platz, der plötzlich zu einem Versteck geworden war, hielt ein Geländewagen mit Soldaten. Die lange Antenne peitschte weit durch die Luft. Zwei Mann sprangen aus dem Fahrzeug, ein älterer, hünenhaft großer Offizier und ein junger schmaler Leutnant. Zwei weitere Soldaten, mit Helmen auf dem Kopf, blieben in dem Wagen sitzen. Vorsichtig veränderte ich meine Lage etwas, um bequemer zu stehen und streckte meinen Kopf tief in das Geäst der Tannen hinein um besser sehen und hören zu können. Ungeachtet des Matsches und kleiner Pfützen schritten die Offiziere sogleich an die Stelle, von der sie freie Sicht hatten. Der Matsch mochte zuerst kaum an den polierten Stiefeln haften. Deutlich vernehmbar saugte der ältere Offizier die frische Morgenluft ein, zog seine ledernen Handschuhe stramm, ballte die Fäuste und stemmte diese in seine Hüften: sein Parker blähte sich. Mit einem lauten Stoß trieb er die Luft aus seiner Lunge und rief: "Herrliches Wetter heute, nicht war Herr Oberleutnant!" "Ja wohl, Herr Oberst!" Der junge Offizier stellte sich an die Seite des älteren und erklärte: "Von hier aus können wir das Gefecht gut beobachten." "Sicher ein ausgezeichneter Platz! Ich muss Sie wirklich loben. Sehr gut!" Im Matsch breitbeinig stehend, die Brust hochgezogen und die Arme zu gleichschenkligen Dreiecken geformt, setzte der Oberst seinen Feldstecher vor die Augen. Unterdessen schritt der Oberleutnant zum Geländewagen zurück und ließ sich eine Mappe reichen. Mit dieser Mappe unter dem Arm gesellte sich der junge Offizier wieder an die Seite des Älteren. Von meinem Versteck aus vermochte ich der nun beginnenden Unterhaltung nicht zu folgen, denn sie sprachen zu leise, und der sich aufbäumende Manöverlärm tat ein übriges. Sie hatten die Mappe aufgeschlagen und eine Karte entfaltet. Nur vereinzelt drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr. Von "Roten" und "Blauen" sprachen sie, von einem Verteidigungsring um das Dorf, von gestaffelten Angriffen und von Verteidigung hinter der Linie hörte ich sie reden, während sie mit ihren Fingern über die Karte fuhren, ihre Arme in das Gelände streckten oder durch die Feldstecher schauten. Nach einer Weile faltete der Oberleutnant die Karte zusammen und brachte sie zu dem Wagen zurück. Der Oberst reckte seinen Hals und rief: "Ein herrliches Wetter ist das heute!" Mir aber wurde es langsam zu kalt. Gerade hatte ich mich zur Rückfahrt entschlossen und meinen Kopf aus der Tanne gezogen, da hörte ich ein krächzendes "Peng! Peng!" Und noch einmal "Peng! Peng!" Sogleich steckte ich meinen Kopf wieder zwischen die Tannenzweige und sah, wie sich die beiden Offiziere der Quelle dieses Peng zu wandten. Vielleicht fünfzig, sechzig Meter neben meinen Versteck stand am Rande des Waldes ein kleines Mädchen. "Peng, Peng" kreischend hopste nun auch ein Junge aus dem Gebüsch. Und so standen sie nebeneinander, die beiden Offiziere und schauten, ihre Feldstecher vor die Bäuche haltend, zu den beiden Kinder, welche gleichfalls nebeneinander stehend die Offiziere musterten. Das etwa sechs Jahre alte Mädchen hatte kleine blonde Locken die in ein lustiges Pfannkuchengesicht fielen. Bekleidet war es mit einer blauen Windjacke und einer hell grünen Hose. Das rechte Bein steckte in einem roten, das linke in einem blauen Stiefel, während der Junge rechts in einem blauen und links in einem roten Stiefel stand. Hose und Jacke des Jungen waren grau und sein schwarzes Haar wehte um ein schlankes, frech dreinschauendes Gesicht. - Erraten! Das waren die beiden Kinder, die mir vor Monaten erlaubt hatten auf ihrem Grundstück - oder das ihrer Eltern - zu verweilen, sofern ich mich ruhig verhielt, der Vögel, Maulwürfe und Kaninchen wegen. "Das ist unser Grundstück!" kreischte der Junge plötzlich. Und das Mädchen rief: "Seit ihr Soldaten?" Ohne auf die Frage einzugehen rief der Oberleutnant: "Was macht ihr denn hier? Wo kommt ihr her?" Aber auch die Kinder vermieden es zu antworten. Dafür schlurften sie gleichgültig und erhaben durch Gras und Matsch, jedes einen Knüppel - halb so groß wie es selbst - in den Händen haltend. Nach eine Weile rief der Junge, seinen Knüppel hoch in die Richtung des Waldes streckend: "Wir wohnen dort!" "So", meinte der Oberst, "das ist also euer Grundstück. Nun gut, das soll es ja auch bleiben. Aber nun stört uns nicht weiter, geht am besten wieder nach Hause." Die Offiziere hoben ihre Feldstecher vor die Augen und wandten sich dem Geschehen auf dem Schlachtfeld zu. "Wir bleiben aber hier!" rief der Junge, und: "macht ihr den Krieg?" Keine Antwort. Mit ihren Knüppeln schlugen die Kinder nun zur Abwechslung in den Matsch und in die Pfützen, das es nur so über ihre Köpfe spritzte. Die Offiziere murmelten sich Kommentare über das Manöver zu und nach einer Weile gewannen die beiden im Geländewagen sitzenden Soldaten (zwei übermüdete Wehrpflichtige, deren Bubigesichter, eingezwängt zwischen Stahlhelm und Parker, teilnahmslos blass dreinschauten) die Aufmerksamkeit der Kinder. Der Junge stellte sich auf die Fahrerseite und das Mädchen hüpfte an die Beifahrerseite. "Könnt ihr schießen?" hörte ich den Jungen fragen und das Mädchen rief: "Was machen die da?" "Haut ab!" raunte der Fahrer müde den Jungen an. Der aber rief: "Soldaten sind blöd!" Unterdessen hatte das Gefecht seinen Höhepunkt erreicht. Panzer rollten über die Felder, der Vormarsch der Roten konnte gestoppt werden. Aus den beiden Rohren eines der Panzer stoben fett krachende Feuerstöße, die Erde zitterte, Kartuschen platzten aus dem Stahlungetüm heraus. In diesem lärmerfüllten Augenblick hopste der Junge wenige Meter abseits der Offiziere auf einen Baumstumpf, schwang seinen Knüppel in wilden Kreisen und plärrte: "Attacke! Attacke!" Die Köpfe der beiden Offiziere schnellten herum, den im Wagen sitzenden Soldaten stieg Farbe ins Gesicht, das Mädchen hüpfte direkt hinter den Offizieren und als der Oberst kommandierte: "Sei ruhig Junge und scher dich nach Hause!" steckte dieser ihm seine Zunge entgegen und das Mädchen schlug - ich glaube so kräftig wie es in seinem Alter nur konnte - mit dem Knüppel in die große, matschige Pfütze. Eine schwarz-braune Tunke peitschte auf, zielstrebig den Oberst besudelnd. Schlagartige schnellte er herum, streckte seine Hand greifend zu dem Mädchen, das sich eben noch zu entwinden vermochte und da, ich sehe' es noch ganz deutlich, der hünenhafte Offizier stellte dem Kind nach, doch sein Fuß verhakte sich an einer aus dem Boden herausragenden Wurzel und der Mann sauste - lang wie er war - in das Matschloch, das Größte weit und breit... Dem Leutnant klappte die Kinnlade, die Kinder verschwanden im Gebüsch, unter den Helmen der beiden im Wagen hockenden Soldaten leuchteten scheinbar überreife Tomaten. Matsch triefend strauchelte der Oberst unter tätiger Mithilfe des jungen Offiziers zum Auto, ein paar verzerrte Kommandos erschallten und mit schwingender Antenne holperte das Fahrzeug davon. Auf dem Schlachtfeld wurde das Gefecht zugunsten der Blauen entschieden. Das Dorf konnte erfolgreich verteidigt werden. Das lass ich am anderen Tag in unserer Zeitung. Und im Wetterbericht stand geschrieben, dass es einige schöne, milde Tage geben würde. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Blau gegen Rot Die Anhöhe entdecken ich auf einer meiner Erkundungstouren mit dem Fahrrad. Glück hatte ich auch, als ich sofort die Genehmigung bekam, diesen idyllischen Platz zu betreten: "Gut, du darfst hier bleiben und auch wiederkommen, wenn es dir gefällt", hatte der kleine Junge gesagt, und dabei immer wieder zu dem Mädchen hinüber geblinzelt, als müsste er sich seiner Entscheidung vergewissern. Die Kinder waren vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Unverhofft waren sie aus dem Gebüsch gekommen und hatten mich zunächst mit bösem Blick gemustert. Dann hatten sie mich gefragt, wer ich sei und was ich hier wollte. Sie erklärten, daß dieses Grundstück ihnen gehören würde (zumindest aber ihren Eltern), und das viele Tiere, vor allem Vögel aber auch Maulwürfe und Kaninchen ihre Nester und Baue hier haben würden. Deshalb müsse ich mich ruhig verhalten, wenn ich hier her käme. Nach dieser eindringlichen Mahnung waren sie gleich wieder im dichten Unterholz auf geheimnisvollen Pfaden verschwunden. Auf der Anhöhe verweilte ich von nun an immer wenn ich bei schönem Wetter einen Ausflug machte. Der weitläufige Mischwald endete dort abrupt und gab den Blick auf die Umgebung frei, mit ausgedehnten Feldern, Wiesen und Äcker. Und halb rechts, im Südwesten, schimmerten die rotbraunen Dächer eines kleinen Dorfes zwischen den Bäumen hindurch. Nur wenn der Wind aus dem Südosten kam, brachte er etwas von dem dröhnenden Rauschen der fernen Autobahn. Wie auch an jenem Morgen im November, an dem ich schon früh losgefahren war. Fast eine Woche lang hatte es geregnet, doch über Nacht setzte sich ein aus dem Osten kommendes "Hoch" durch und es gab Bodenfrost. Auf den Pfützen schimmerte Eis, der aufgeweichte, matschige Waldboden knirschte wie gefrorener Schnee und die Wiesen waren vom Rauhreif gezuckert. Kaum hatte ich die Anhöhe erreicht und mein Fahrrad nahe der umgeknickten Kiefer hinter den Tannen gestellt, mischte sich unter das ferne Rauschen der Autobahn ein Geräusch, das ich mir zuerst nicht erklären konnte. Es waren patschende und knatterndes Töne. Doch da erinnerte ich mich: Das war der Lärm automatischer Waffen, durchsetzt vom dumpfen Krachen der Geschütze. Die "Roten" versuchten das Dorf einzunehmen - so hatte es in der Zeitung gestanden -, und auch, daß die Bevölkerung um Verständnis gebeten wurde, sollten durch übende Verbände Belästigungen auftreten. Betrübt, ja wütend stampfte ich zu meinem Fahrrad zurück um mich auf die Heimfahrt zu begeben, als sich plötzlich ein Auto mit heulendem Motor kämpferisch über den zerfurchten Weg näherte. Ich blieb lauschend bei meinem Fahrrad hinter einer Tanne stehen. Nur ungefähr fünfzig Meter von meinem Platz, der plötzlich zu einem Versteck geworden war, hielt ein Geländewagen mit Soldaten. Die lange Antenne peitschte weit durch die Luft. Zwei Mann sprangen aus dem Fahrzeug, ein älterer, hünenhaft großer Offizier und ein junger schmaler Leutnant. Zwei weitere Soldaten, mit Helmen auf dem Kopf, blieben in dem Wagen sitzen. Vorsichtig veränderte ich meine Lage etwas, um bequemer zu stehen und streckte meinen Kopf tief in das Geäst der Tannen hinein um besser sehen und hören zu können. Ungeachtet des Matsches und kleiner Pfützen schritten die Offiziere sogleich an die Stelle, von der sie freie Sicht hatten. Der Matsch mochte zuerst kaum an den polierten Stiefeln haften. Deutlich vernehmbar saugte der ältere Offizier die frische Morgenluft ein, zog seine ledernen Handschuhe stramm, ballte die Fäuste und stemmte diese in seine Hüften: sein Parker blähte sich. Mit einem lauten Stoß trieb er die Luft aus seiner Lunge und rief: "Herrliches Wetter heute, nicht war Herr Oberleutnant!" "Ja wohl, Herr Oberst!" Der junge Offizier stellte sich an die Seite des älteren und erklärte: "Von hier aus können wir das Gefecht gut beobachten." "Sicher ein ausgezeichneter Platz! Ich muss Sie wirklich loben. Sehr gut!" Im Matsch breitbeinig stehend, die Brust hochgezogen und die Arme zu gleichschenkligen Dreiecken geformt, setzte der Oberst seinen Feldstecher vor die Augen. Unterdessen schritt der Oberleutnant zum Geländewagen zurück und ließ sich eine Mappe reichen. Mit dieser Mappe unter dem Arm gesellte sich der junge Offizier wieder an die Seite des Älteren. Von meinem Versteck aus vermochte ich der nun beginnenden Unterhaltung nicht zu folgen, denn sie sprachen zu leise, und der sich aufbäumende Manöverlärm tat ein übriges. Sie hatten die Mappe aufgeschlagen und eine Karte entfaltet. Nur vereinzelt drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr. Von "Roten" und "Blauen" sprachen sie, von einem Verteidigungsring um das Dorf, von gestaffelten Angriffen und von Verteidigung hinter der Linie hörte ich sie reden, während sie mit ihren Fingern über die Karte fuhren, ihre Arme in das Gelände streckten oder durch die Feldstecher schauten. Nach einer Weile faltete der Oberleutnant die Karte zusammen und brachte sie zu dem Wagen zurück. Der Oberst reckte seinen Hals und rief: "Ein herrliches Wetter ist das heute!" Mir aber wurde es langsam zu kalt. Gerade hatte ich mich zur Rückfahrt entschlossen und meinen Kopf aus der Tanne gezogen, da hörte ich ein krächzendes "Peng! Peng!" Und noch einmal "Peng! Peng!" Sogleich steckte ich meinen Kopf wieder zwischen die Tannenzweige und sah, wie sich die beiden Offiziere der Quelle dieses Peng zu wandten. Vielleicht fünfzig, sechzig Meter neben meinen Versteck stand am Rande des Waldes ein kleines Mädchen. "Peng, Peng" kreischend hopste nun auch ein Junge aus dem Gebüsch. Und so standen sie nebeneinander, die beiden Offiziere und schauten, ihre Feldstecher vor die Bäuche haltend, zu den beiden Kinder, welche gleichfalls nebeneinander stehend die Offiziere musterten. Das etwa sechs Jahre alte Mädchen hatte kleine blonde Locken die in ein lustiges Pfannkuchengesicht fielen. Bekleidet war es mit einer blauen Windjacke und einer hell grünen Hose. Das rechte Bein steckte in einem roten, das linke in einem blauen Stiefel, während der Junge rechts in einem blauen und links in einem roten Stiefel stand. Hose und Jacke des Jungen waren grau und sein schwarzes Haar wehte um ein schlankes, frech dreinschauendes Gesicht. - Erraten! Das waren die beiden Kinder, die mir vor Monaten erlaubt hatten auf ihrem Grundstück - oder das ihrer Eltern - zu verweilen, sofern ich mich ruhig verhielt, der Vögel, Maulwürfe und Kaninchen wegen. "Das ist unser Grundstück!" kreischte der Junge plötzlich. Und das Mädchen rief: "Seit ihr Soldaten?" Ohne auf die Frage einzugehen rief der Oberleutnant: "Was macht ihr denn hier? Wo kommt ihr her?" Aber auch die Kinder vermieden es zu antworten. Dafür schlurften sie gleichgültig und erhaben durch Gras und Matsch, jedes einen Knüppel - halb so groß wie es selbst - in den Händen haltend. Nach eine Weile rief der Junge, seinen Knüppel hoch in die Richtung des Waldes streckend: "Wir wohnen dort!" "So", meinte der Oberst, "das ist also euer Grundstück. Nun gut, das soll es ja auch bleiben. Aber nun stört uns nicht weiter, geht am besten wieder nach Hause." Die Offiziere hoben ihre Feldstecher vor die Augen und wandten sich dem Geschehen auf dem Schlachtfeld zu. "Wir bleiben aber hier!" rief der Junge, und: "macht ihr den Krieg?" Keine Antwort. Mit ihren Knüppeln schlugen die Kinder nun zur Abwechslung in den Matsch und in die Pfützen, das es nur so über ihre Köpfe spritzte. Die Offiziere murmelten sich Kommentare über das Manöver zu und nach einer Weile gewannen die beiden im Geländewagen sitzenden Soldaten (zwei übermüdete Wehrpflichtige, deren Bubigesichter, eingezwängt zwischen Stahlhelm und Parker, teilnahmslos blass dreinschauten) die Aufmerksamkeit der Kinder. Der Junge stellte sich auf die Fahrerseite und das Mädchen hüpfte an die Beifahrerseite. "Könnt ihr schießen?" hörte ich den Jungen fragen und das Mädchen rief: "Was machen die da?" "Haut ab!" raunte der Fahrer müde den Jungen an. Der aber rief: "Soldaten sind blöd!" Unterdessen hatte das Gefecht seinen Höhepunkt erreicht. Panzer rollten über die Felder, der Vormarsch der Roten konnte gestoppt werden. Aus den beiden Rohren eines der Panzer stoben fett krachende Feuerstöße, die Erde zitterte, Kartuschen platzten aus dem Stahlungetüm heraus. In diesem lärmerfüllten Augenblick hopste der Junge wenige Meter abseits der Offiziere auf einen Baumstumpf, schwang seinen Knüppel in wilden Kreisen und plärrte: "Attacke! Attacke!" Die Köpfe der beiden Offiziere schnellten herum, den im Wagen sitzenden Soldaten stieg Farbe ins Gesicht, das Mädchen hüpfte direkt hinter den Offizieren und als der Oberst kommandierte: "Sei ruhig Junge und scher dich nach Hause!" steckte dieser ihm seine Zunge entgegen und das Mädchen schlug - ich glaube so kräftig wie es in seinem Alter nur konnte - mit dem Knüppel in die große, matschige Pfütze. Eine schwarz-braune Tunke peitschte auf, zielstrebig den Oberst besudelnd. Schlagartige schnellte er herum, streckte seine Hand greifend zu dem Mädchen, das sich eben noch zu entwinden vermochte und da, ich sehe' es noch ganz deutlich, der hünenhafte Offizier stellte dem Kind nach, doch sein Fuß verhakte sich an einer aus dem Boden herausragenden Wurzel und der Mann sauste - lang wie er war - in das Matschloch, das Größte weit und breit... Dem Leutnant klappte die Kinnlade, die Kinder verschwanden im Gebüsch, unter den Helmen der beiden im Wagen hockenden Soldaten leuchteten scheinbar überreife Tomaten. Matsch triefend strauchelte der Oberst unter tätiger Mithilfe des jungen Offiziers zum Auto, ein paar verzerrte Kommandos erschallten und mit schwingender Antenne holperte das Fahrzeug davon. Auf dem Schlachtfeld wurde das Gefecht zugunsten der Blauen entschieden. Das Dorf konnte erfolgreich verteidigt werden. Das lass ich am anderen Tag in unserer Zeitung. Und im Wetterbericht stand geschrieben, dass es einige schöne, milde Tage geben würde. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015