Blau gegen Rot
Die Anhöhe entdecken ich auf einer meiner Erkundungstouren mit dem Fahrrad. Glück hatte ich auch, als ich sofort die
Genehmigung bekam, diesen idyllischen Platz zu betreten:
"Gut, du darfst hier bleiben und auch wiederkommen, wenn es dir gefällt", hatte der kleine Junge gesagt, und dabei immer
wieder zu dem Mädchen hinüber geblinzelt, als müsste er sich seiner Entscheidung vergewissern.
Die Kinder waren vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Unverhofft waren sie aus dem Gebüsch gekommen und hatten mich
zunächst mit bösem Blick gemustert. Dann hatten sie mich gefragt, wer ich sei und was ich hier wollte. Sie erklärten, daß dieses
Grundstück ihnen gehören würde (zumindest aber ihren Eltern), und das viele Tiere, vor allem Vögel aber auch Maulwürfe und
Kaninchen ihre Nester und Baue hier haben würden. Deshalb müsse ich mich ruhig verhalten, wenn ich hier her käme. Nach
dieser eindringlichen Mahnung waren sie gleich wieder im dichten Unterholz auf geheimnisvollen Pfaden verschwunden.
Auf der Anhöhe verweilte ich von nun an immer wenn ich bei schönem Wetter einen Ausflug machte. Der weitläufige Mischwald
endete dort abrupt und gab den Blick auf die Umgebung frei, mit ausgedehnten Feldern, Wiesen und Äcker. Und halb rechts, im
Südwesten, schimmerten die rotbraunen Dächer eines kleinen Dorfes zwischen den Bäumen hindurch. Nur wenn der Wind aus
dem Südosten kam, brachte er etwas von dem dröhnenden Rauschen der fernen Autobahn.
Wie auch an jenem Morgen im November, an dem ich schon früh losgefahren war. Fast eine Woche lang hatte es geregnet, doch
über Nacht setzte sich ein aus dem Osten kommendes "Hoch" durch und es gab Bodenfrost. Auf den Pfützen schimmerte Eis,
der aufgeweichte, matschige Waldboden knirschte wie gefrorener Schnee und die Wiesen waren vom Rauhreif gezuckert.
Kaum hatte ich die Anhöhe erreicht und mein Fahrrad nahe der umgeknickten Kiefer hinter den Tannen gestellt, mischte sich
unter das ferne Rauschen der Autobahn ein Geräusch, das ich mir zuerst nicht erklären konnte. Es waren patschende und
knatterndes Töne. Doch da erinnerte ich mich: Das war der Lärm automatischer Waffen, durchsetzt vom dumpfen Krachen der
Geschütze. Die "Roten" versuchten das Dorf einzunehmen - so hatte es in der Zeitung gestanden -, und auch, daß die
Bevölkerung um Verständnis gebeten wurde, sollten durch übende Verbände Belästigungen auftreten.
Betrübt, ja wütend stampfte ich zu meinem Fahrrad zurück um mich auf die Heimfahrt zu begeben, als sich plötzlich ein Auto
mit heulendem Motor kämpferisch über den zerfurchten Weg näherte. Ich blieb lauschend bei meinem Fahrrad hinter einer
Tanne stehen. Nur ungefähr fünfzig Meter von meinem Platz, der plötzlich zu einem Versteck geworden war, hielt ein
Geländewagen mit Soldaten. Die lange Antenne peitschte weit durch die Luft. Zwei Mann sprangen aus dem Fahrzeug, ein
älterer, hünenhaft großer Offizier und ein junger schmaler Leutnant. Zwei weitere Soldaten, mit Helmen auf dem Kopf, blieben
in dem Wagen sitzen. Vorsichtig veränderte ich meine Lage etwas, um bequemer zu stehen und streckte meinen Kopf tief in das
Geäst der Tannen hinein um besser sehen und hören zu können.
Ungeachtet des Matsches und kleiner Pfützen schritten die Offiziere sogleich an die Stelle, von der sie freie Sicht hatten. Der
Matsch mochte zuerst kaum an den polierten Stiefeln haften. Deutlich vernehmbar saugte der ältere Offizier die frische
Morgenluft ein, zog seine ledernen Handschuhe stramm, ballte die Fäuste und stemmte diese in seine Hüften: sein Parker
blähte sich. Mit einem lauten Stoß trieb er die Luft aus seiner Lunge und rief:
"Herrliches Wetter heute, nicht war Herr Oberleutnant!"
"Ja wohl, Herr Oberst!"
Der junge Offizier stellte sich an die Seite des älteren und erklärte: "Von hier aus können wir das Gefecht gut beobachten."
"Sicher ein ausgezeichneter Platz! Ich muss Sie wirklich loben. Sehr gut!"
Im Matsch breitbeinig stehend, die Brust hochgezogen und die Arme zu gleichschenkligen Dreiecken geformt, setzte der
Oberst seinen Feldstecher vor die Augen. Unterdessen schritt der Oberleutnant zum Geländewagen zurück und ließ sich eine
Mappe reichen. Mit dieser Mappe unter dem Arm gesellte sich der junge Offizier wieder an die Seite des Älteren.
Von meinem Versteck aus vermochte ich der nun beginnenden Unterhaltung nicht zu folgen, denn sie sprachen zu leise, und der
sich aufbäumende Manöverlärm tat ein übriges. Sie hatten die Mappe aufgeschlagen und eine Karte entfaltet. Nur vereinzelt
drangen Gesprächsfetzen an mein Ohr. Von "Roten" und "Blauen" sprachen sie, von einem Verteidigungsring um das Dorf, von
gestaffelten Angriffen und von Verteidigung hinter der Linie hörte ich sie reden, während sie mit ihren Fingern über die Karte
fuhren, ihre Arme in das Gelände streckten oder durch die Feldstecher schauten. Nach einer Weile faltete der Oberleutnant
die Karte zusammen und brachte sie zu dem Wagen zurück. Der Oberst reckte seinen Hals und rief:
"Ein herrliches Wetter ist das heute!"
Mir aber wurde es langsam zu kalt. Gerade hatte ich mich zur Rückfahrt entschlossen und meinen Kopf aus der Tanne gezogen,
da hörte ich ein krächzendes "Peng! Peng!" Und noch einmal "Peng! Peng!"
Sogleich steckte ich meinen Kopf wieder zwischen die Tannenzweige und sah, wie sich die beiden Offiziere der Quelle dieses
Peng zu wandten. Vielleicht fünfzig, sechzig Meter neben meinen Versteck stand am Rande des Waldes ein kleines Mädchen.
"Peng, Peng" kreischend hopste nun auch ein Junge aus dem Gebüsch. Und so standen sie nebeneinander, die beiden Offiziere
und schauten, ihre Feldstecher vor die Bäuche haltend, zu den beiden Kinder, welche gleichfalls nebeneinander stehend die
Offiziere musterten.
Das etwa sechs Jahre alte Mädchen hatte kleine blonde Locken die in ein lustiges Pfannkuchengesicht fielen. Bekleidet war es
mit einer blauen Windjacke und einer hell grünen Hose. Das rechte Bein steckte in einem roten, das linke in einem blauen
Stiefel, während der Junge rechts in einem blauen und links in einem roten Stiefel stand. Hose und Jacke des Jungen waren
grau und sein schwarzes Haar wehte um ein schlankes, frech dreinschauendes Gesicht. - Erraten! Das waren die beiden Kinder,
die mir vor Monaten erlaubt hatten auf ihrem Grundstück - oder das ihrer Eltern - zu verweilen, sofern ich mich ruhig verhielt,
der Vögel, Maulwürfe und Kaninchen wegen.
"Das ist unser Grundstück!" kreischte der Junge plötzlich. Und das Mädchen rief: "Seit ihr Soldaten?"
Ohne auf die Frage einzugehen rief der Oberleutnant: "Was macht ihr denn hier? Wo kommt ihr her?"
Aber auch die Kinder vermieden es zu antworten. Dafür schlurften sie gleichgültig und erhaben durch Gras und Matsch, jedes
einen Knüppel - halb so groß wie es selbst - in den Händen haltend. Nach eine Weile rief der Junge, seinen Knüppel hoch in die
Richtung des Waldes streckend:
"Wir wohnen dort!"
"So", meinte der Oberst, "das ist also euer Grundstück. Nun gut, das soll es ja auch bleiben. Aber nun stört uns nicht weiter,
geht am besten wieder nach Hause."
Die Offiziere hoben ihre Feldstecher vor die Augen und wandten sich dem Geschehen auf dem Schlachtfeld zu.
"Wir bleiben aber hier!" rief der Junge, und: "macht ihr den Krieg?"
Keine Antwort. Mit ihren Knüppeln schlugen die Kinder nun zur Abwechslung in den Matsch und in die Pfützen, das es nur so
über ihre Köpfe spritzte. Die Offiziere murmelten sich Kommentare über das Manöver zu und nach einer Weile gewannen die
beiden im Geländewagen sitzenden Soldaten (zwei übermüdete Wehrpflichtige, deren Bubigesichter, eingezwängt zwischen
Stahlhelm und Parker, teilnahmslos blass dreinschauten) die Aufmerksamkeit der Kinder. Der Junge stellte sich auf die
Fahrerseite und das Mädchen hüpfte an die Beifahrerseite.
"Könnt ihr schießen?" hörte ich den Jungen fragen und das Mädchen rief: "Was machen die da?"
"Haut ab!" raunte der Fahrer müde den Jungen an. Der aber rief: "Soldaten sind blöd!"
Unterdessen hatte das Gefecht seinen Höhepunkt erreicht. Panzer rollten über die Felder, der Vormarsch der Roten konnte
gestoppt werden. Aus den beiden Rohren eines der Panzer stoben fett krachende Feuerstöße, die Erde zitterte, Kartuschen
platzten aus dem Stahlungetüm heraus. In diesem lärmerfüllten Augenblick hopste der Junge wenige Meter abseits der
Offiziere auf einen Baumstumpf, schwang seinen Knüppel in wilden Kreisen und plärrte: "Attacke! Attacke!"
Die Köpfe der beiden Offiziere schnellten herum, den im Wagen sitzenden Soldaten stieg Farbe ins Gesicht, das Mädchen
hüpfte direkt hinter den Offizieren und als der Oberst kommandierte:
"Sei ruhig Junge und scher dich nach Hause!" steckte dieser ihm seine Zunge entgegen und das Mädchen schlug - ich glaube so
kräftig wie es in seinem Alter nur konnte - mit dem Knüppel in die große, matschige Pfütze. Eine schwarz-braune Tunke
peitschte auf, zielstrebig den Oberst besudelnd. Schlagartige schnellte er herum, streckte seine Hand greifend zu dem
Mädchen, das sich eben noch zu entwinden vermochte und da, ich sehe' es noch ganz deutlich, der hünenhafte Offizier stellte
dem Kind nach, doch sein Fuß verhakte sich an einer aus dem Boden herausragenden Wurzel und der Mann sauste - lang wie er
war - in das Matschloch, das Größte weit und breit...
Dem Leutnant klappte die Kinnlade, die Kinder verschwanden im Gebüsch, unter den Helmen der beiden im Wagen hockenden
Soldaten leuchteten scheinbar überreife Tomaten.
Matsch triefend strauchelte der Oberst unter tätiger Mithilfe des jungen Offiziers zum Auto, ein paar verzerrte Kommandos
erschallten und mit schwingender Antenne holperte das Fahrzeug davon.
Auf dem Schlachtfeld wurde das Gefecht zugunsten der Blauen entschieden. Das Dorf konnte erfolgreich verteidigt werden.
Das lass ich am anderen Tag in unserer Zeitung. Und im Wetterbericht stand geschrieben, dass es einige schöne, milde Tage
geben würde.
(c) Klaus Dieter Schley