Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Das Stilett und die Vernissage oder Fingerübungen mit dem wabbeligen Hirn des Lesers Sabine befand sich im Badezimmer und bereitete sich auf die Vernissage vor. Die Badezimmertür war halb geöffnet und wenn ich zur Seite schaute konnte ich sie sehen. Sie hatte geduscht, stand nackt vor dem Spiegel und föhnte ihr Haar. Ich saß an meinem Schreibtisch. Vor mir stand der Bildschirm des PC. Hinter dem Schreibtisch war das große Fenster unseres Apartment im siebten Stock, von dem aus es einen weiten Blick über den Park gab, über die daran anschließende Bahnanlage hinüber zum Neubauviertel. Den PC hatte ich eingeschaltet. Die Seite war weiß und rein gleich einer sauberen Tafel. Aber was hatte das schon zu bedeuten, rein und sauber? Ich tippte in die Tasten und sofort erschienen Buchstaben wie aus dem Nichts auf dem Bildschirm: Ich sitze vor meinem PC. Sabine befindet sich im Badezimmer. Sie macht sich fertig für die Vernissage. Ich ziehe die unterste Schreibtischschublade auf, wühle zwischen irgendwelchen Schriftstücken, halte den Brieföffner einen Augenblick nachdenklich in der Hand, lege ihn aber zurück und suche weiter bis ich es gefunden habe, das Stilett. Das Stilett ist griffig. Ich wiege es in meiner Hand und schaue hinüber zur Badezimmertür. Sabine steht nackt vor dem Spiegel und föhnt ihre Haare. Wenn sie nass sind, schauen sie schwarz aus, obwohl Sabine brünett ist. Markant aber ist ihr Po wenn sie so unbefangen vor dem Spiegel steht und sich föhnt. Er verformt die Perspektive meiner Wahrnehmung und gerät zum bestimmenden, meinen Blick konzentrierenden Mittelpunkt. Sabine ist schlank, wohl geformt mit heller makelloser Haut. Wie warme Milch. Ihr milchwarme helle Haut und das Rot ihrer Lippen. Ein dunkles, dabei aufreizend natürliches Rot. Milch und Blut. Wärme und Leben. Das Stilett schmiegt sich mit seinem spürbaren Gewicht in meine Hand, als wäre es ein natürlich gewachsenes Werkzeug - taxiert im Gewicht und in Entschlossenheit. Ich lege es neben die Tastatur auf den Schreibtisch. Vor dem dämmernden Abend sehe ich Sabine gespiegelt im Fensterglas, umhüllt vom gelben Licht des Badezimmers. Sie hat ihr Haar geföhnt, nun bürstet sie es. Dabei legt sie ihren Kopf zur Seite und lässt das Haar auf die rechte Schulter fallen. "Wie spät ist es?" rief Sabine. "Es ist noch Zeit!" antwortete ich. "Was heißt noch Zeit? Arbeitest du?" "Ja!" Ich schaute eine Weile auf den Text meines Bildschirmes. Dann öffnete ich die unterste Schreibtischschublade und suchte das Stilett. Zunächst legte ich es neben die Tastatur, dann stand ich auf, packte den Griff fest in meine Faust und stieß das Messer in die Tischplatte. Leicht geneigt blieb es in dem Holz stecken. "Was ist los? Ist die etwas runter gefallen?" Ich schrieb: Das Stilett steckt in der Tischplatte. Griffbereit. Es federt kaum wenn ich dagegen stoße. Sabine hat mich gefragt, ob mir etwas runter gefallen sei. Sie weis weder, das ich ein Stilett besitze, noch das ich es in die Tischplatte gerammt habe. "Bist du taub oder lebst du nicht mehr?" "Wieso?" "Ich hatte gefragt, ob dir etwas runter gefallen sei!" "Ja." "Kaputt?" "Nein." Ich konnte Sabine nicht mehr sehen. Die Tür des Badezimmers war fast geschlossen. Ich hörte sie im Toilettenschrank kramen und ich schrieb: Sabine ist meinen Blicken verborgen. Es wird noch ein langer Abend, eine lange Nacht. Ich sehne mich auf die andere Seite der Welt, an einem weißen Strand vor einem türkisfarbenen Meer. Sabine sitzt vor mir im Sand und ich reiche ihr eine Kokosnuss. Hinter uns startet ein Düsenjet dröhnend in einen grau blauen Himmel. Sabine lächelt als ihr die Kokosmilch von den Lippen auf die Brust tropft. "Willst du dich nicht umziehen?" Sabine stand in ihrem weißen Bademantel gehüllt in der Badezimmertür. "Es ist noch Zeit", sagte ich. Sie stieg die Wendeltreppe hinauf in die Schlafebene unseres Apartment. Ich stand auf und stellte mich an das Fenster. Über der Stadt spannte sich eine graue Wolkendecke. Ich schaute hinunter in den Park. Ein paar Sträucher und Bäume ließen zaghaftes Grün erkennen. Von unserem Apartment aus war der Park vollständig zu überblicken. Und weil die Bäume noch keine Blätter trugen waren die meisten Wege und viele Winkel einsehbar. Zunächst glaubte ich, dass sich in dem Park kein Menschen befand. Doch dann entdeckte ich einen Jogger in einem hellgrauen Jogginganzug. Er war nicht allein, wie ich gleich darauf feststellte. Auf der anderen Seite, bei den Gleisen, lief noch einer, gekleidet in einem dunkelblauen Jogginganzug. Sie werden sich nicht sehen können, dachte ich. Vielleicht weis der eine nichts von dem anderen und jeder glaubt zu dieser Stunde allein in dem Park zu sein. Andererseits dachte ich, nein ich fühlte es, dass die beiden etwas miteinander zu tun hatten, selbst wenn sie sich nicht kannten und nichts voneinander wussten. Mir war, als sei nun der Abend gekommen, an dem sie etwas miteinander zu tun bekämen. Vielleicht versackten sie später zusammen in einer Kneipe um ihren Durst zu stillen. Oder sie lernten sich auf der Vernissage kennen, einander vorgestellt von Sabine. Ein Güterzug rattert über das Gleis- und Weichengewirr und zerriss meine Gedanken. Da entdecke ich noch eine Gestalt. Sie bewegt sich auf eine Bank zu, die genau dem spitzwinkeligen Schnittpunkt zweier langer Wege gegenüber stand. Die Gestalt setzte sich auf die Bank und wühlte in einer Tüte. Es war eine ältere Frau, die Abend für Abend in dem Park Tauben fütterte. "Ich finde, du solltest das weiße Jackett anziehen" rief Sabine. "Das würde gut passen?" "Wieso? Sind die Ausstellungsstücke schwarz?" Ich ging an den Schreibtisch zurück und tippte in die Tasten: Während zwei jüngere Männer durch den Park joggen geht eine alte Frau zu einer Parkbank die im Schnittpunkt zweier spitzwinkelig aufeinander zulaufender Wege steht. Mir ist der Name der Frau nicht bekannt, dennoch kenne ich sie, denn sie kommt jeden Abend um die Tauben zu füttern. Sie wohnt in irgend einem der gesichtslosen Mietshäuser, die in einer Zeile entlang einer benachbarten Straße stehen. Bestimmt ist ihr Mann schon vor längerer Zeit gestorben, und so geht sie in den Abendstunden in den Park, nicht nur um die Tauben zu füttern, sondern auch, um mit jemanden gesprochen zu haben, bevor sie in die Einsamkeit eines langen Fernsehabend taucht. Die beiden Jogger aber drehen ihre Runden und Sabine hat mich aufgefordert, das weiße Jackett zu tragen. Weiß, wie die Wärme der Milch. Und schon stelle ich mir Flecken auf dem Tuch vor. Rote Flecken. Mein Jackett baumelte zwischen den Stangen der Wendeltreppe. "Da ich annehme, dass du dich nicht so schnell hinauf bequemen wirst, reiche ich dir deine Sachen runter", rief Sabine und wackelte fordernd mit dem weißen Teil. Ich stand auf und nahm das Jackett wie die anderen Kleidungsstücke entgegen. Dann legte ich sie auf die Couch. Ich verteilte sie so, dass die ganze Couch von den Kleidungsstücken eingenommen wurde. Auf der Rückenlehne in der Mitte das Hemd, auf die Sitzfläche unterhalb den Schlips, rechts vom Hemd die Hose, links das Jackett, die Socken je einen über die Rückenlehne ganz rechts und links, die Unterwäsche links und rechts über die Seitenlehnen. Eine Weile bemühte ich mich die Kleidungsstücke so zu legen, das je eines neben dem anderen gestaltet war und so zu dem ganzen in einer irgendwie gewollten Beziehung stand. Die Couch war nun bekleidet; ein Mensch war in ihr eingegangen und hatte sein Äußeres in skurriler Weise auf dem Möbel hinterlassen: als ein Zeugnis seiner vergangenen Existenz. Sabine nieste. "Gesundheit!" rief ich und setzte mich an meinem Schreibtisch zurück. Auf die Couch habe ich meine Kleidungsstücke verteilt. Die Kleidungsstücke, das Stilett in der Tischplatte, das weiße Jackett und rotes Blut. Ich sitze vor meinem PC und arrangiere. Ich tippe Buchstabe für Buchstabe in das Gerät, schaffe Buchstabengruppen mit einer Vielzahl von Bedeutungen, die ich in einer regelhaften Beziehung setze. Ich arrangiere Bilder, Gedanken, Abläufe. Ich wecke Vorstellungen, Erwartungen, Ahnungen. Ich spiele mit dem Hirn meiner Leser. Es ist eine schwabbelige, unförmige Masse, die ich mit meinen Arrangements zu jonglieren trachte. Es gilt als normal wenn es auch absurd ist. Es gefällt mir - mehr vielleicht als meinen Lesern. Ich schaue mich um. Sabine hatte sich geduscht, sie bereitete sich für die Vernissage vor und hat sich nebenbei Gedanken gemacht, in welcher Kleidung ich ihr zur Seite stehen soll. In dem spät winterlichen Park vor unserem Haus hat sich eine alte Frau auf eine Bank gesetzt und füttert Tauben. Zwei Jogger eilen über die verschlungenen Wege. Hin und wieder donnert ein Zug über die Gleisanlage hinter dem Park. Der Himmel über allem ist grau und wird zunehmend dunkler. Die Hälfte der Autos fährt schon mit Licht. Ich stand auf und ging zum Fenster. Die alte Frau war von Tauben umringt. Sie streute Brotbrocken aus und wackelte mit dem Kopf. "Wie spät ist es?" rief Sabine. "Spät! Es wird schon dunkel." "Tatsächlich? - Danke!" Welches Ziel hat ein Jogger? Den Ausgangspunkt? Trotz wechselnder Richtungen läuft er im Kreis. Ich trat dicht an die Fensterscheibe heran. Vogelgesang war deutlich zu hören und im Neubauviertel leuchtete ein Fenster nach dem anderen auf. Ein Eilzug schlängelte sich durch die Weichen der Gleisanlage, als ein Jogger auf einem der geraden Wege einschwenkte, der direkt auf die Bank mit der alten Frau führte. Und wie verabredet hatte nun auch der zweite Jogger den anderen geraden Weg erreicht. Sie hatten ihre Runde gelaufen. Kannten sie sich wirklich nicht und wussten sie nicht voneinander? War das, was sich vor meinen Augen abspielte ein Arrangement des Zufalls? Ich schaute hinüber zu meinem Schreibtisch. Das Stilett steckte schräg in der Tischplatte. Es hatte etwas vergessenes an sich; etwas von einem vergangenen Ereignis. Es war Gegenstand einer Tat, die sich nicht erklären ließ. Etwas musste vorgefallen sein, signalisierte das Messer, ohne dabei auch nur anzudeuten was. Es war ein absurde Tatsache, die mehr Fragen aufwarf und Assoziationen freisetzte als jemals beantwortbar wären. Ein unendliches Spiel mit Vorstellungen und Möglichkeiten. Die alte Frau warf den Tauben einen Brotbrocken nach dem anderen vor und wackelte mit ihrem Kopf. Die Jogger liefen auf den Schnittpunkt der Wege zu und ich stand am Fenster und schaute hinunter in den Park. Sabine stieg die Wendeltreppe hinab. Die Jogger hatten fast den Schnittpunkt erreicht, sie waren jetzt auf der Höhe der Hecke. Ich spürte, wie Sabine auf der Treppe stehen blieb und schaute. Sie schaute zum Kleiderarrangement auf der Couch, sie schaute zum Fenster, sah mich dort stehen und sie überlegte. Ich spürte, wie sie mich anschaute und wie sie nach einer Erklärung für das Gesehene suchte. Die Jogger hatten den Schnittpunkt erreicht: der eine schwenkte nach links, der andere nach rechts. Sie stießen gegeneinander und taumelten. Einer sank rücklings auf den Kies. Die Frau hörte auf mit dem Kopf zu wackeln und die Tauben flatterten in die Luft. "Bist du dir bewusst, das wir gleich einen Termin haben?" sagte Sabine. Ich hörte, wie sie die restlichen Stufen hinab stieg. Langsam drehte ich mich um. Sabine schaute zwischen der Couch und mir hin und her. Als sich unsere Blicke trafen wurde ihr Gesichtsausdruck nachdenklich. "Ist etwas?" fragte sie. "Nein." "Du schaust so traurig. Will dir dein Text nicht gelingen?" Ich antwortete nicht sondern ging an meinen Schreibtisch zurück. Sabine hatte sich vor die Couch gestellt und schaute sich amüsiert mein Arrangement an. Sie hatte mir ihren Rücken zugedreht. Ihre Haare hatte sie hoch gebunden, so dass ihr Nacken frei war. Ich zog das Stilett aus der Tischplatte und während ich seine Entschlossenheit in meiner Hand spürte, hörte ich sie gegen die Couch sprechen: "Hübsch. - Ja, durchaus, das hat etwas. - Sollten wir mit in die Galerie nehmen. - Könnte Anklang finden. Bringt vielleicht mehr als deine Texte. - Dumm nur, das unser Auto zu klein ist um das Werk zu transportieren. Machst du mir das Kettchen zu?" Sie hielt in ihrer rechten Hand ein dünnes, goldenes Kettchen, mit dessen eigenartigem Verschluss sie ihre liebe Not hatte. Ich legte das Stilette auf den Schreibtisch und stellte mich dicht hinter sie. Sie roch gut. Frisch und warm. Ich fasste ihr an die Schultern und konnte sehen, wie sich die feinen Härchen auf ihrem Nacken bewegten. "Nein, - doch jetzt nicht", flüsterte sie. "Bitte." Ich nahm das Kettchen und legte es um ihren Hals. Überraschend schnell gelang es mir das Kettchen zu verschließen. Darauf küßte ich ihr auf den Nacken. Sie entwandt sich mir und ging zum Badezimmer. "Sei so lieb und beeile dich. Ich trage eben noch etwas Maske auf." Über den Park, die Gleisanlagen, über die Stadt legte sich die Nacht. Ich schaltete die Schreibtischlampe ein, öffnete die unterste Schublade und legte das Stilett hinein. Dann schrieb ich: Das große Fenster; der Blick hinab in den Park. Die kopfschüttelnde alte Frau; die Jogger. Sie werden sich gefangen haben. Sicher ist ihnen nichts geschehen; vielleicht eine Schramme hier, eine Beule dort. Möglich dass sie lachen. Anlass genug um gemeinsam ein Bier zu trinken. Das Stilett habe ich in die Schublade zurückgelegt? Warum hatte ich es überhaupt herausgenommen? Warum habe ich geschrieben, was ich schrieb? Von Sabine, dem Park; von der Wendeltreppe, der Couch und meinem weißen Jackett? Was kann schon jemand erwarten, der mein Arrangement der Worte ließt, mein Arrangement der Kleidungsstücke sieht. Zeugen Socken rechts und links auf einer Couchlehne von Ohren und Worte von Taten? Die wabbelige Maße Hirn im Kopf eines Lesers. Das warme, empfindsame Fleisch eines lebendigen Menschen. Das Unverständliche, Ärgerliche, Empörende wie Erschreckende. Etwas sinnloses, etwas langweiliges. Warum nahm ich das Stilett aus der Schublade, warum besitze ich überhaupt eines? Warum schreibe ich diesen Text, warum gab es diesen Abend; warum liest jemand einen solchen Text und mit welchen Erwartungen? Gleich wie es sei, es wird Zeit, das ich Schluss mache, das ich zu einem Ende komme. Ich setze einen Punkt. Jenseits des großen Fensters war es unterdessen dunkel geworden. Noch immer hatte ich mich nicht umgezogen. Es wurde nun wirklich Zeit. Die unterste Schublade stand etwas hervor, sie war nicht ganz zu. Sollte das etwas zu bedeuten haben? Alles bedeutet ja immer irgend etwas. Ich überflog meinen Text. Dabei stellte ich mir einen Leser vor. Das reizte mich zum Lachen und ich beendete das Textprogramm. Auf die Frage: "Datei speichern" reagierte ich mit einem Knopfdruck: POWER OFF (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Das Stilett und die Vernissage oder Fingerübungen mit dem wabbeligen Hirn des Lesers Sabine befand sich im Badezimmer und bereitete sich auf die Vernissage vor. Die Badezimmertür war halb geöffnet und wenn ich zur Seite schaute konnte ich sie sehen. Sie hatte geduscht, stand nackt vor dem Spiegel und föhnte ihr Haar. Ich saß an meinem Schreibtisch. Vor mir stand der Bildschirm des PC. Hinter dem Schreibtisch war das große Fenster unseres Apartment im siebten Stock, von dem aus es einen weiten Blick über den Park gab, über die daran anschließende Bahnanlage hinüber zum Neubauviertel. Den PC hatte ich eingeschaltet. Die Seite war weiß und rein gleich einer sauberen Tafel. Aber was hatte das schon zu bedeuten, rein und sauber? Ich tippte in die Tasten und sofort erschienen Buchstaben wie aus dem Nichts auf dem Bildschirm: Ich sitze vor meinem PC. Sabine befindet sich im Badezimmer. Sie macht sich fertig für die Vernissage. Ich ziehe die unterste Schreibtischschublade auf, wühle zwischen irgendwelchen Schriftstücken, halte den Brieföffner einen Augenblick nachdenklich in der Hand, lege ihn aber zurück und suche weiter bis ich es gefunden habe, das Stilett. Das Stilett ist griffig. Ich wiege es in meiner Hand und schaue hinüber zur Badezimmertür. Sabine steht nackt vor dem Spiegel und föhnt ihre Haare. Wenn sie nass sind, schauen sie schwarz aus, obwohl Sabine brünett ist. Markant aber ist ihr Po wenn sie so unbefangen vor dem Spiegel steht und sich föhnt. Er verformt die Perspektive meiner Wahrnehmung und gerät zum bestimmenden, meinen Blick konzentrierenden Mittelpunkt. Sabine ist schlank, wohl geformt mit heller makelloser Haut. Wie warme Milch. Ihr milchwarme helle Haut und das Rot ihrer Lippen. Ein dunkles, dabei aufreizend natürliches Rot. Milch und Blut. Wärme und Leben. Das Stilett schmiegt sich mit seinem spürbaren Gewicht in meine Hand, als wäre es ein natürlich gewachsenes Werkzeug - taxiert im Gewicht und in Entschlossenheit. Ich lege es neben die Tastatur auf den Schreibtisch. Vor dem dämmernden Abend sehe ich Sabine gespiegelt im Fensterglas, umhüllt vom gelben Licht des Badezimmers. Sie hat ihr Haar geföhnt, nun bürstet sie es. Dabei legt sie ihren Kopf zur Seite und lässt das Haar auf die rechte Schulter fallen. "Wie spät ist es?" rief Sabine. "Es ist noch Zeit!" antwortete ich. "Was heißt noch Zeit? Arbeitest du?" "Ja!" Ich schaute eine Weile auf den Text meines Bildschirmes. Dann öffnete ich die unterste Schreibtischschublade und suchte das Stilett. Zunächst legte ich es neben die Tastatur, dann stand ich auf, packte den Griff fest in meine Faust und stieß das Messer in die Tischplatte. Leicht geneigt blieb es in dem Holz stecken. "Was ist los? Ist die etwas runter gefallen?" Ich schrieb: Das Stilett steckt in der Tischplatte. Griffbereit. Es federt kaum wenn ich dagegen stoße. Sabine hat mich gefragt, ob mir etwas runter gefallen sei. Sie weis weder, das ich ein Stilett besitze, noch das ich es in die Tischplatte gerammt habe. "Bist du taub oder lebst du nicht mehr?" "Wieso?" "Ich hatte gefragt, ob dir etwas runter gefallen sei!" "Ja." "Kaputt?" "Nein." Ich konnte Sabine nicht mehr sehen. Die Tür des Badezimmers war fast geschlossen. Ich hörte sie im Toilettenschrank kramen und ich schrieb: Sabine ist meinen Blicken verborgen. Es wird noch ein langer Abend, eine lange Nacht. Ich sehne mich auf die andere Seite der Welt, an einem weißen Strand vor einem türkisfarbenen Meer. Sabine sitzt vor mir im Sand und ich reiche ihr eine Kokosnuss. Hinter uns startet ein Düsenjet dröhnend in einen grau blauen Himmel. Sabine lächelt als ihr die Kokosmilch von den Lippen auf die Brust tropft. "Willst du dich nicht umziehen?" Sabine stand in ihrem weißen Bademantel gehüllt in der Badezimmertür. "Es ist noch Zeit", sagte ich. Sie stieg die Wendeltreppe hinauf in die Schlafebene unseres Apartment. Ich stand auf und stellte mich an das Fenster. Über der Stadt spannte sich eine graue Wolkendecke. Ich schaute hinunter in den Park. Ein paar Sträucher und Bäume ließen zaghaftes Grün erkennen. Von unserem Apartment aus war der Park vollständig zu überblicken. Und weil die Bäume noch keine Blätter trugen waren die meisten Wege und viele Winkel einsehbar. Zunächst glaubte ich, dass sich in dem Park kein Menschen befand. Doch dann entdeckte ich einen Jogger in einem hellgrauen Jogginganzug. Er war nicht allein, wie ich gleich darauf feststellte. Auf der anderen Seite, bei den Gleisen, lief noch einer, gekleidet in einem dunkelblauen Jogginganzug. Sie werden sich nicht sehen können, dachte ich. Vielleicht weis der eine nichts von dem anderen und jeder glaubt zu dieser Stunde allein in dem Park zu sein. Andererseits dachte ich, nein ich fühlte es, dass die beiden etwas miteinander zu tun hatten, selbst wenn sie sich nicht kannten und nichts voneinander wussten. Mir war, als sei nun der Abend gekommen, an dem sie etwas miteinander zu tun bekämen. Vielleicht versackten sie später zusammen in einer Kneipe um ihren Durst zu stillen. Oder sie lernten sich auf der Vernissage kennen, einander vorgestellt von Sabine. Ein Güterzug rattert über das Gleis- und Weichengewirr und zerriss meine Gedanken. Da entdecke ich noch eine Gestalt. Sie bewegt sich auf eine Bank zu, die genau dem spitzwinkeligen Schnittpunkt zweier langer Wege gegenüber stand. Die Gestalt setzte sich auf die Bank und wühlte in einer Tüte. Es war eine ältere Frau, die Abend für Abend in dem Park Tauben fütterte. "Ich finde, du solltest das weiße Jackett anziehen" rief Sabine. "Das würde gut passen?" "Wieso? Sind die Ausstellungsstücke schwarz?" Ich ging an den Schreibtisch zurück und tippte in die Tasten: Während zwei jüngere Männer durch den Park joggen geht eine alte Frau zu einer Parkbank die im Schnittpunkt zweier spitzwinkelig aufeinander zulaufender Wege steht. Mir ist der Name der Frau nicht bekannt, dennoch kenne ich sie, denn sie kommt jeden Abend um die Tauben zu füttern. Sie wohnt in irgend einem der gesichtslosen Mietshäuser, die in einer Zeile entlang einer benachbarten Straße stehen. Bestimmt ist ihr Mann schon vor längerer Zeit gestorben, und so geht sie in den Abendstunden in den Park, nicht nur um die Tauben zu füttern, sondern auch, um mit jemanden gesprochen zu haben, bevor sie in die Einsamkeit eines langen Fernsehabend taucht. Die beiden Jogger aber drehen ihre Runden und Sabine hat mich aufgefordert, das weiße Jackett zu tragen. Weiß, wie die Wärme der Milch. Und schon stelle ich mir Flecken auf dem Tuch vor. Rote Flecken. Mein Jackett baumelte zwischen den Stangen der Wendeltreppe. "Da ich annehme, dass du dich nicht so schnell hinauf bequemen wirst, reiche ich dir deine Sachen runter", rief Sabine und wackelte fordernd mit dem weißen Teil. Ich stand auf und nahm das Jackett wie die anderen Kleidungsstücke entgegen. Dann legte ich sie auf die Couch. Ich verteilte sie so, dass die ganze Couch von den Kleidungsstücken eingenommen wurde. Auf der Rückenlehne in der Mitte das Hemd, auf die Sitzfläche unterhalb den Schlips, rechts vom Hemd die Hose, links das Jackett, die Socken je einen über die Rückenlehne ganz rechts und links, die Unterwäsche links und rechts über die Seitenlehnen. Eine Weile bemühte ich mich die Kleidungsstücke so zu legen, das je eines neben dem anderen gestaltet war und so zu dem ganzen in einer irgendwie gewollten Beziehung stand. Die Couch war nun bekleidet; ein Mensch war in ihr eingegangen und hatte sein Äußeres in skurriler Weise auf dem Möbel hinterlassen: als ein Zeugnis seiner vergangenen Existenz. Sabine nieste. "Gesundheit!" rief ich und setzte mich an meinem Schreibtisch zurück. Auf die Couch habe ich meine Kleidungsstücke verteilt. Die Kleidungsstücke, das Stilett in der Tischplatte, das weiße Jackett und rotes Blut. Ich sitze vor meinem PC und arrangiere. Ich tippe Buchstabe für Buchstabe in das Gerät, schaffe Buchstabengruppen mit einer Vielzahl von Bedeutungen, die ich in einer regelhaften Beziehung setze. Ich arrangiere Bilder, Gedanken, Abläufe. Ich wecke Vorstellungen, Erwartungen, Ahnungen. Ich spiele mit dem Hirn meiner Leser. Es ist eine schwabbelige, unförmige Masse, die ich mit meinen Arrangements zu jonglieren trachte. Es gilt als normal wenn es auch absurd ist. Es gefällt mir - mehr vielleicht als meinen Lesern. Ich schaue mich um. Sabine hatte sich geduscht, sie bereitete sich für die Vernissage vor und hat sich nebenbei Gedanken gemacht, in welcher Kleidung ich ihr zur Seite stehen soll. In dem spät winterlichen Park vor unserem Haus hat sich eine alte Frau auf eine Bank gesetzt und füttert Tauben. Zwei Jogger eilen über die verschlungenen Wege. Hin und wieder donnert ein Zug über die Gleisanlage hinter dem Park. Der Himmel über allem ist grau und wird zunehmend dunkler. Die Hälfte der Autos fährt schon mit Licht. Ich stand auf und ging zum Fenster. Die alte Frau war von Tauben umringt. Sie streute Brotbrocken aus und wackelte mit dem Kopf. "Wie spät ist es?" rief Sabine. "Spät! Es wird schon dunkel." "Tatsächlich? - Danke!" Welches Ziel hat ein Jogger? Den Ausgangspunkt? Trotz wechselnder Richtungen läuft er im Kreis. Ich trat dicht an die Fensterscheibe heran. Vogelgesang war deutlich zu hören und im Neubauviertel leuchtete ein Fenster nach dem anderen auf. Ein Eilzug schlängelte sich durch die Weichen der Gleisanlage, als ein Jogger auf einem der geraden Wege einschwenkte, der direkt auf die Bank mit der alten Frau führte. Und wie verabredet hatte nun auch der zweite Jogger den anderen geraden Weg erreicht. Sie hatten ihre Runde gelaufen. Kannten sie sich wirklich nicht und wussten sie nicht voneinander? War das, was sich vor meinen Augen abspielte ein Arrangement des Zufalls? Ich schaute hinüber zu meinem Schreibtisch. Das Stilett steckte schräg in der Tischplatte. Es hatte etwas vergessenes an sich; etwas von einem vergangenen Ereignis. Es war Gegenstand einer Tat, die sich nicht erklären ließ. Etwas musste vorgefallen sein, signalisierte das Messer, ohne dabei auch nur anzudeuten was. Es war ein absurde Tatsache, die mehr Fragen aufwarf und Assoziationen freisetzte als jemals beantwortbar wären. Ein unendliches Spiel mit Vorstellungen und Möglichkeiten. Die alte Frau warf den Tauben einen Brotbrocken nach dem anderen vor und wackelte mit ihrem Kopf. Die Jogger liefen auf den Schnittpunkt der Wege zu und ich stand am Fenster und schaute hinunter in den Park. Sabine stieg die Wendeltreppe hinab. Die Jogger hatten fast den Schnittpunkt erreicht, sie waren jetzt auf der Höhe der Hecke. Ich spürte, wie Sabine auf der Treppe stehen blieb und schaute. Sie schaute zum Kleiderarrangement auf der Couch, sie schaute zum Fenster, sah mich dort stehen und sie überlegte. Ich spürte, wie sie mich anschaute und wie sie nach einer Erklärung für das Gesehene suchte. Die Jogger hatten den Schnittpunkt erreicht: der eine schwenkte nach links, der andere nach rechts. Sie stießen gegeneinander und taumelten. Einer sank rücklings auf den Kies. Die Frau hörte auf mit dem Kopf zu wackeln und die Tauben flatterten in die Luft. "Bist du dir bewusst, das wir gleich einen Termin haben?" sagte Sabine. Ich hörte, wie sie die restlichen Stufen hinab stieg. Langsam drehte ich mich um. Sabine schaute zwischen der Couch und mir hin und her. Als sich unsere Blicke trafen wurde ihr Gesichtsausdruck nachdenklich. "Ist etwas?" fragte sie. "Nein." "Du schaust so traurig. Will dir dein Text nicht gelingen?" Ich antwortete nicht sondern ging an meinen Schreibtisch zurück. Sabine hatte sich vor die Couch gestellt und schaute sich amüsiert mein Arrangement an. Sie hatte mir ihren Rücken zugedreht. Ihre Haare hatte sie hoch gebunden, so dass ihr Nacken frei war. Ich zog das Stilett aus der Tischplatte und während ich seine Entschlossenheit in meiner Hand spürte, hörte ich sie gegen die Couch sprechen: "Hübsch. - Ja, durchaus, das hat etwas. - Sollten wir mit in die Galerie nehmen. - Könnte Anklang finden. Bringt vielleicht mehr als deine Texte. - Dumm nur, das unser Auto zu klein ist um das Werk zu transportieren. Machst du mir das Kettchen zu?" Sie hielt in ihrer rechten Hand ein dünnes, goldenes Kettchen, mit dessen eigenartigem Verschluss sie ihre liebe Not hatte. Ich legte das Stilette auf den Schreibtisch und stellte mich dicht hinter sie. Sie roch gut. Frisch und warm. Ich fasste ihr an die Schultern und konnte sehen, wie sich die feinen Härchen auf ihrem Nacken bewegten. "Nein, - doch jetzt nicht", flüsterte sie. "Bitte." Ich nahm das Kettchen und legte es um ihren Hals. Überraschend schnell gelang es mir das Kettchen zu verschließen. Darauf küßte ich ihr auf den Nacken. Sie entwandt sich mir und ging zum Badezimmer. "Sei so lieb und beeile dich. Ich trage eben noch etwas Maske auf." Über den Park, die Gleisanlagen, über die Stadt legte sich die Nacht. Ich schaltete die Schreibtischlampe ein, öffnete die unterste Schublade und legte das Stilett hinein. Dann schrieb ich: Das große Fenster; der Blick hinab in den Park. Die kopfschüttelnde alte Frau; die Jogger. Sie werden sich gefangen haben. Sicher ist ihnen nichts geschehen; vielleicht eine Schramme hier, eine Beule dort. Möglich dass sie lachen. Anlass genug um gemeinsam ein Bier zu trinken. Das Stilett habe ich in die Schublade zurückgelegt? Warum hatte ich es überhaupt herausgenommen? Warum habe ich geschrieben, was ich schrieb? Von Sabine, dem Park; von der Wendeltreppe, der Couch und meinem weißen Jackett? Was kann schon jemand erwarten, der mein Arrangement der Worte ließt, mein Arrangement der Kleidungsstücke sieht. Zeugen Socken rechts und links auf einer Couchlehne von Ohren und Worte von Taten? Die wabbelige Maße Hirn im Kopf eines Lesers. Das warme, empfindsame Fleisch eines lebendigen Menschen. Das Unverständliche, Ärgerliche, Empörende wie Erschreckende. Etwas sinnloses, etwas langweiliges. Warum nahm ich das Stilett aus der Schublade, warum besitze ich überhaupt eines? Warum schreibe ich diesen Text, warum gab es diesen Abend; warum liest jemand einen solchen Text und mit welchen Erwartungen? Gleich wie es sei, es wird Zeit, das ich Schluss mache, das ich zu einem Ende komme. Ich setze einen Punkt. Jenseits des großen Fensters war es unterdessen dunkel geworden. Noch immer hatte ich mich nicht umgezogen. Es wurde nun wirklich Zeit. Die unterste Schublade stand etwas hervor, sie war nicht ganz zu. Sollte das etwas zu bedeuten haben? Alles bedeutet ja immer irgend etwas. Ich überflog meinen Text. Dabei stellte ich mir einen Leser vor. Das reizte mich zum Lachen und ich beendete das Textprogramm. Auf die Frage: "Datei speichern" reagierte ich mit einem Knopfdruck: POWER OFF (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015