Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Der unerreichbare Salon In den Baumkronen zauste der Herbstwind. Mächtige Wolken türmten sich am Himmel und kurze windgepeitschte Regenschauer rauschten durch die Äste. Dann und wann brach die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Sogleich leuchtete der verwilderte Park. Bunt und freundlich lag er da, für Augenblicke wie verzaubert im wässrigen Licht. Bis eine schwarze Wolke den Schein verjagte und faulende Düsterkeit sich über den Wald und das alte Haus legte. Robert schlich an den Wänden des Gemäuers entlang. Mit der linken Hand stützte er sich an dem rauen Stein, mit der anderen strich er sein dünnes, windzerzaustes Haar aus dem Gesicht. Müde und erschöpft war er von der Nacht, die er bald kauernd, bald liegend in den klammen Räumen des alten Hauses verbracht hatte, bei Marcel, seinem toten Bruder. Aus einem Loch in der Dachrinne pladderte ein faseriger Wasserstrahl auf die glitschigen Platten der Terrasse. Robert schlürfte weiter, bis unter das Fenster des weißen Salon. Dort blieb er stehen und schaute hinauf. Eine Seite des verwitterten Fensterladens schwankte quietschend im Wind. Er schloss die Augen und schaute, ja hörte weit zurück. Stimmen erklangen; helle freundliche Rufe, das muntere Geplätscher eines Springbrunnens. Und Musik. Er hörte sie spielen, deutlich und laut. Mama saß an ihrem Flügel und spielte. Sie spielte schon den ganzen, langen Nachmittag. Ihre Musik erfüllte das Haus, erfüllte den Garten und den Park, erfüllte die Herzen der Menschen. Sie war so eifrig, so beflissentlich wie die Vögel in den Bäumen. Ihre Musik strömte aus den hohen geöffneten Fenstern des weißen Salons, ergoss sich in den licht durchfluteten Park, ließ die Schmetterlinge tanzen, vermischte sich mit dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Wie gerne hätte auch er ihre Musik geliebt. "Was machst du da?" zischte die Haushälterin. Sie wedelte mit ihren Händen, gleich als sie um die Ecke kam und ihn sah. "Ihr wisst doch, eure Mutter braucht Ruhe. Sie will ungestört sein. Geh, geh weg, geh hinüber zum Pavillon. Da ist auch dein Bruder." Marcel? Ja, dort hinten im gleißenden Sonnenlicht läuft Marcel. Hält er einen Ball in der Hand? Nein, er läuft den tanzenden Schmetterlingen nach. Er will sie fangen und Mama schenken. "Aber Marcel, du liegst doch im Keller. Mit einem blutenden Kopf. Das kommt davon. Warum wolltest du auch in den Salon." Robert ging hinüber zum Pavillon. "Und verhaltet euch ruhig", zischt ihm die Haushälterin nach. Das helle Holz war warm. Er hockt sich auf den Boden und legte seinen Kopf an einen Balken der Brüstung. Auch hier war Mamas Musik zu hören. Sie spielte das Venezianische Gondellied von Felix Mendelssohn Bartholdy. Oft, ja wie oft hatte er es schon gehört. Wie fein sie die Töne traf. Er spürte, wie sie ihr ganzes Gefühl in die Musik legte, ihre ganze Liebe. Alle spürten es, die Insekten, die Vögel, die hohen Bäume, der Wind. Selbst die kleinen weißen Wolken, die bedächtig über das rote, im Sonnenlicht leuchtende Dach des alten Hauses zogen. Robert wog seinen Körper in dem Rhythmus der Natur. Wie unbekümmert krabbelten die Ameisen über die Bohlen des Pavillon, und wie schwer war sein Herz. Er schaute hinüber zum Haus. "Marcel!" Überrascht richtete er sich auf. "Was machst du dort oben?" Sein Bruder stand am Fenster des Salon. "Mama spielt doch. Sie will nicht gestört werden!" Marcel schaute hinunter in den Park. Jetzt trafen sich ihre Blicke. Da trat Marcel zurück, schloss den Fensterflügel und war verschwunden. Die Musik klang aus. Bebend stand Robert im Pavillon und stützte sich benommen am modrigen Holz. Er fror. Die Fensterläden des Salon wurden unschlüssig vom Wind hin und her getrieben. Ein heller Sonnenschein lief über das bunte Laub der Bäume und über das matte Gras; lief zu auf das nasse graue Haus, leckte die Wände empor und blitzte auf im dunklen Fenster des Salon. Da knallte ein Fensterladen. Es regnete. Müde schlurfte er zum Haus zurück. Unter der Balustrade des Balkons hatte er gestern Nachmittag auf Marcel gewartet. "Du hast den Schlüssel bekommen?" "Ja, der Mann konnte sich noch gut an Mutter erinnern. Sie war ja damals bekannt, nicht nur in der Stadt. 'Eine berühmte Pianistin', sagte der Mann." "Berühmt, ja." "Auch an uns konnte er sich erinnern." "So?" "Ja, wir sollen vorsichtig sein. Das Haus ist baufällig. Es soll abgerissen werden." "Wie du schon sagtest." "Deshalb wollte ich es ja auch noch einmal sehen." Die beiden Brüder gingen hoch zum Portal, dessen schwere Tür zusätzlich mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war. Robert beobachtete seinen Bruder, wie er die Tür aufschloss. Noch immer hatte Marcel dieses dichte, volle Haar, durch das ihn Mutter oft gekrault hatte, wenn sie gemeinsam vor dem Kamin saßen oder auf der Terrasse, um der untergehenden Sonne nach zuschauen. Aber an einigen Stellen zeigten sich graue Strähnen. "Seltsam", sagte Marcel, als er aufgeschlossen hatte. "An den Herbst hier draußen kann ich mich nicht erinnern." Sie schauten zurück in den Wald. "Wir waren ja auch nur in den Sommermonaten hier. Die andere Zeit waren wir in der Stadt und Mutter auf Tournee." "Stimmt. Wo du es jetzt sagst." Marcel drückte die Tür auf. Muffige Luft empfing sie, als sie die Eingangshalle betraten. Sie schlenderten über das knarrende Parkett. Robert hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Ihm war kalt. Marcel aber öffnete seinen langen weißen Trenchcoat. Die Gürtelschnalle baumelte locker an der Seite. Er berührte die fleckige Tapete. "Seit damals, als Mutter das Haus gekündigt hatte, ist es unbewohnt." "All die Jahre?" "Ja. Nur die Möbel hatte der Mann im Laufe der Zeit verkauft. Es ist gewissermaßen noch Mutters Haus." Marcel wandte sich an seinen Bruder. "Was ist mit dir? Du bist so seltsam. Fehlt dir etwas?" "Nein. Mir ist nur kalt." Durch die verschlossenen Fenster kam nur wenig Tageslicht. An den Wänden, auf dem stumpfen Parkett und an ihren Mäntel zeichneten sich kleine Lichtflecken der Fensterläden ab. "Auch ohne Möbel ist alles gut wieder zu erkennen", sagte Robert. "Stimmt. Ich erinnere mich auch der Einrichtung. Schau, dies ist das Esszimmer." Marcel schritt ein paar Meter voraus. "Hier, genau hier hat der ovale Tisch gestanden." "Und hier, am schmalen Ende war Mutters Platz. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster." "Ja, und du hast dort zu ihrer rechten und ich hier zu ihrer linken Seite gesessen." Marcel lachte. "Und wenn mittags die Sonne schien, hat sie dich geblendet, schautest du Mutter an. Dann wolltest du, dass wir den Fensterladen schließen. Und Mutter sagte: 'Hab dich nicht so. Du brauchst mich ja nicht die ganze Zeit anschauen.' Du aber bestandest darauf, dass die Lade geschlossen wird. Und dann hattest du diese rhombusförmigen Lichtflecken im Gesicht. Du sahst zum Schießen aus." Marcel lachte. Robert ging ein paar Schritte zur Wand und drehte sich um. Da lachte Marcel so laut, dass es durch das Haus hallte, denn auf Roberts Gesicht waren wieder die Lichtflecken. Robert schaute seinen Bruder mit starrem Gesicht an. Da starb Marcels Lachen. "Entschuldige bitte." Sie gingen zurück in die Eingangshalle. "Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hier raus zu fahren und in längst vergangene Zeiten zu stöbern", sagte Marcel nach einer Weile. Seufzend schaute er die breite Treppe zum Obergeschoss hinauf. Vor dem Aufgang war eine Holzleiste zwischen der Wand und dem Treppengeländer befestigt. Robert ging an dem Aufgang vorbei in die dunkle Ecke zur Kellertür. Langsam zog er seine rechte Hand aus der Manteltasche und legte sie auf die rostende Klinke. Die Tür war verriegelt. "Ich sperre dich in den Keller, wenn du nicht hören willst und immer bei der Treppe herumlungerst", schimpfte die Haushälterin. "Deine Mutter braucht jetzt Ruhe." "Wo ist Marcel?" fragte Robert. Die Haushälterin schaute ihn erbost an. "Hast du schon deine Vokabeln gelernt?" Robert schüttelte den Kopf. "Na also, was willst du noch hier. An die Arbeit!" "Wo ist Marcel?" rief Robert und stampfte mit dem Fuß. Die Haushälterin schaute ihn einen Augenblick verständnislos an, dann verschwand sie in die Küche. "Ich war niemals im Keller", sagte Marcel und trat an die Seite seines Bruders. "Ich habe immer Angst gehabt dort hinunter zugehen." Auf die starren Gesichter der Brüder standen Schatten. Ein kalter Schauer erfasste Marcel. Nervös schloss er seinen Trenchcoat und ging eilig in die Mitte der Eingangshalle. Robert trat aus dem Dunkel der Nische. "Wenn ich an Mutter denke, sehe ich nur noch ihr vom Schmerz verzerrtes Gesicht", sagte Marcel. "Die letzten Tage sind mir in Erinnerung, damals, bevor sie starb. Schon seit Jahren sehe ich nichts anderes mehr. Ich sehe sie nur noch in dem Bett liegen, unter dieser kalkweißen Decke. Sie hatte zum Schluss gar keine Haare mehr. Und ihre Hände, diese schönen, aber kräftigen Finger. Das waren doch nur noch Knorpel." Marcel schaute sich um. "Ich glaubte, wenn ich hier raus fahre, mit dir zusammen, und das Haus noch einmal sähe, würde mir anderes in Erinnerung kommen. Aber..." Er drehte sich langsam in der dunklen Eingangshalle, dann wandte er sich der abgesperrten Treppe zu. "Weißt du, das wir eigentlich nie eine Familie waren?" Robert nickte. "Unseren Vater haben wir ja nicht gekannt. Und Mutter? Nur die wenigen Wochen im Sommer, in den Ferien, wenn wir in diesem Haus wohnten, waren wir zusammen." Marcel ging hin und her. Plötzlich blieb er stehen. "Wenn ich die Augen schließe, dann glaube ich, ja dann höre ich sie spielen: Schumann..." "Ja!" schrie Robert. Marcel schreckte auf und schaute seinen Bruder verwundert an. "Was ist?" "Du bist bei ihr oben gewesen!" "Ich verstehe nicht?" Robert wehrte ab und vergrub seine Hände wieder in den Manteltaschen. "Ach nichts. Entschuldige bitte." Marcel schlenderte bis zur Absperrung der Treppe. Er schaute hoch. Oben, an der weißen Wand des Flures schwankte der Schatten eines Fensterkreuzes. "Du meinst, ich war bei Mutter oben, wenn sie im weißen Salon spielte. Als sie nicht gestört sein wollte und uns fort schickte." Er schaute zu seinen Bruder hinüber. "Als sie dich wegschickte." Robert nickte. "Du hast ihre Musik nicht gemocht", sagte Marcel. "Sie hatte Angst gehabt." "Angst?" "Du bist einmal heimlich in ihrem Salon gewesen. Mutter erzählte es mir. Sie kam herein und du standest auf der Bank. Du beugtest dich über den Flügel. Was hattest du vor?" Robert wandte sich ab und ging ein paar Schritte über das knarrende Parkett. "Du warst eifersüchtig auf ihre Musik", rief ihm Marcel nach. "Du nicht?" "Ja, sie hatte viel gespielt. Sehr viel. Sie hatte ihre Musik geliebt, vielleicht mehr als uns. Ich weiß es nicht. Aber ich habe es gemocht, wie sie spielte. - Weiß du, das in dem Salon nur der Flügel stand und die schmale Bank, auf der sie saß? Nicht einmal Bilder hingen an der Wand." "Mag sein", sagte Robert. Marcel legte seine Hände auf die Absperrung und schaute die Treppe hinauf. Plötzlich zerrte er an der Absperrung. "Was machst du da?" Krachend zersplitterte die Leiste. "Ich will den weißen Salon noch einmal sehen!" "Die Treppe, sei vorsichtig!" Langsam stieg Marcel die Stufen hinauf. Der Wind zerrte wütend am Dach. An der Wand pulsierte der Schatten des Fensterkreuzes. Marcel war schon fast oben, als er sich umschaute und sagte: "Die knarren nicht einmal." "Warte, ich komme mit", rief Robert und betrat die erste Stufe. Sofort sprang er zurück. Die Treppe bebte, krachend verschlang sie Marcel zwischen den berstenden Bohlen. Staub wirbelte auf. Ein kalter Lufthauch ging durch die Halle. Robert starrte überrascht auf das Loch, das in der Treppe wie ein Krater klaffte. Dann lief er zur Kellertür und rüttelte an der Klinke, bis sie abbrach. Hinter der Tür hörte er seinen Bruder stöhnen. "Warum wolltest du auch in den Salon!" Er lief zur Treppe zurück. Vorsichtig zog er sich am Geländer hoch bis zu dem dunklen Loch. Muffige, nasse Luft stieg ihm entgegen. Er zündete sein Feuerzeug und hielt die wild flackernde Flamme hinab. Nur undeutlich konnte er seinen Bruder auf der untersten Kellerstufe erkennen. Ein schwankender Balken behinderte die Sicht. Mit der linken Hand packte er den Balken. Marcel bewegte sich. Einen Augenblick verharrte Robert, dann drückte er vorsichtig den Balken zur Seite. Da brach er ab. Robert versuchte, ihn zu ergreifen - vergeblich. Ein dumpfer, hohler Schlag hallte aus dem Keller. "Marcel!" Im Flackerschein sah Robert das Blut überströmte Gesicht bis ein heller Schmerz seine Finger durchzuckte und ihm das heiße Feuerzeug aus der Hand schlug. Marcel war im Dunkeln vergraben. Robert richtete sich auf und schaute hoch zum Flur. Kaum noch war der Schatten des Fensterkreuzes zu sehen. Bald würde es draußen dunkel sein. War da nicht Musik? Nein, sicher der Wind. Er wollte einen Schritt höher gehen, das Loch überschreiten. Aber drohend knackte das Holz. Langsam zog er sich zurück. Der weiße Salon blieb unerreichbar. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Der unerreichbare Salon In den Baumkronen zauste der Herbstwind. Mächtige Wolken türmten sich am Himmel und kurze windgepeitschte Regenschauer rauschten durch die Äste. Dann und wann brach die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Sogleich leuchtete der verwilderte Park. Bunt und freundlich lag er da, für Augenblicke wie verzaubert im wässrigen Licht. Bis eine schwarze Wolke den Schein verjagte und faulende Düsterkeit sich über den Wald und das alte Haus legte. Robert schlich an den Wänden des Gemäuers entlang. Mit der linken Hand stützte er sich an dem rauen Stein, mit der anderen strich er sein dünnes, windzerzaustes Haar aus dem Gesicht. Müde und erschöpft war er von der Nacht, die er bald kauernd, bald liegend in den klammen Räumen des alten Hauses verbracht hatte, bei Marcel, seinem toten Bruder. Aus einem Loch in der Dachrinne pladderte ein faseriger Wasserstrahl auf die glitschigen Platten der Terrasse. Robert schlürfte weiter, bis unter das Fenster des weißen Salon. Dort blieb er stehen und schaute hinauf. Eine Seite des verwitterten Fensterladens schwankte quietschend im Wind. Er schloss die Augen und schaute, ja hörte weit zurück. Stimmen erklangen; helle freundliche Rufe, das muntere Geplätscher eines Springbrunnens. Und Musik. Er hörte sie spielen, deutlich und laut. Mama saß an ihrem Flügel und spielte. Sie spielte schon den ganzen, langen Nachmittag. Ihre Musik erfüllte das Haus, erfüllte den Garten und den Park, erfüllte die Herzen der Menschen. Sie war so eifrig, so beflissentlich wie die Vögel in den Bäumen. Ihre Musik strömte aus den hohen geöffneten Fenstern des weißen Salons, ergoss sich in den licht durchfluteten Park, ließ die Schmetterlinge tanzen, vermischte sich mit dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Wie gerne hätte auch er ihre Musik geliebt. "Was machst du da?" zischte die Haushälterin. Sie wedelte mit ihren Händen, gleich als sie um die Ecke kam und ihn sah. "Ihr wisst doch, eure Mutter braucht Ruhe. Sie will ungestört sein. Geh, geh weg, geh hinüber zum Pavillon. Da ist auch dein Bruder." Marcel? Ja, dort hinten im gleißenden Sonnenlicht läuft Marcel. Hält er einen Ball in der Hand? Nein, er läuft den tanzenden Schmetterlingen nach. Er will sie fangen und Mama schenken. "Aber Marcel, du liegst doch im Keller. Mit einem blutenden Kopf. Das kommt davon. Warum wolltest du auch in den Salon." Robert ging hinüber zum Pavillon. "Und verhaltet euch ruhig", zischt ihm die Haushälterin nach. Das helle Holz war warm. Er hockt sich auf den Boden und legte seinen Kopf an einen Balken der Brüstung. Auch hier war Mamas Musik zu hören. Sie spielte das Venezianische Gondellied von Felix Mendelssohn Bartholdy. Oft, ja wie oft hatte er es schon gehört. Wie fein sie die Töne traf. Er spürte, wie sie ihr ganzes Gefühl in die Musik legte, ihre ganze Liebe. Alle spürten es, die Insekten, die Vögel, die hohen Bäume, der Wind. Selbst die kleinen weißen Wolken, die bedächtig über das rote, im Sonnenlicht leuchtende Dach des alten Hauses zogen. Robert wog seinen Körper in dem Rhythmus der Natur. Wie unbekümmert krabbelten die Ameisen über die Bohlen des Pavillon, und wie schwer war sein Herz. Er schaute hinüber zum Haus. "Marcel!" Überrascht richtete er sich auf. "Was machst du dort oben?" Sein Bruder stand am Fenster des Salon. "Mama spielt doch. Sie will nicht gestört werden!" Marcel schaute hinunter in den Park. Jetzt trafen sich ihre Blicke. Da trat Marcel zurück, schloss den Fensterflügel und war verschwunden. Die Musik klang aus. Bebend stand Robert im Pavillon und stützte sich benommen am modrigen Holz. Er fror. Die Fensterläden des Salon wurden unschlüssig vom Wind hin und her getrieben. Ein heller Sonnenschein lief über das bunte Laub der Bäume und über das matte Gras; lief zu auf das nasse graue Haus, leckte die Wände empor und blitzte auf im dunklen Fenster des Salon. Da knallte ein Fensterladen. Es regnete. Müde schlurfte er zum Haus zurück. Unter der Balustrade des Balkons hatte er gestern Nachmittag auf Marcel gewartet. "Du hast den Schlüssel bekommen?" "Ja, der Mann konnte sich noch gut an Mutter erinnern. Sie war ja damals bekannt, nicht nur in der Stadt. 'Eine berühmte Pianistin', sagte der Mann." "Berühmt, ja." "Auch an uns konnte er sich erinnern." "So?" "Ja, wir sollen vorsichtig sein. Das Haus ist baufällig. Es soll abgerissen werden." "Wie du schon sagtest." "Deshalb wollte ich es ja auch noch einmal sehen." Die beiden Brüder gingen hoch zum Portal, dessen schwere Tür zusätzlich mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war. Robert beobachtete seinen Bruder, wie er die Tür aufschloss. Noch immer hatte Marcel dieses dichte, volle Haar, durch das ihn Mutter oft gekrault hatte, wenn sie gemeinsam vor dem Kamin saßen oder auf der Terrasse, um der untergehenden Sonne nach zuschauen. Aber an einigen Stellen zeigten sich graue Strähnen. "Seltsam", sagte Marcel, als er aufgeschlossen hatte. "An den Herbst hier draußen kann ich mich nicht erinnern." Sie schauten zurück in den Wald. "Wir waren ja auch nur in den Sommermonaten hier. Die andere Zeit waren wir in der Stadt und Mutter auf Tournee." "Stimmt. Wo du es jetzt sagst." Marcel drückte die Tür auf. Muffige Luft empfing sie, als sie die Eingangshalle betraten. Sie schlenderten über das knarrende Parkett. Robert hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Ihm war kalt. Marcel aber öffnete seinen langen weißen Trenchcoat. Die Gürtelschnalle baumelte locker an der Seite. Er berührte die fleckige Tapete. "Seit damals, als Mutter das Haus gekündigt hatte, ist es unbewohnt." "All die Jahre?" "Ja. Nur die Möbel hatte der Mann im Laufe der Zeit verkauft. Es ist gewissermaßen noch Mutters Haus." Marcel wandte sich an seinen Bruder. "Was ist mit dir? Du bist so seltsam. Fehlt dir etwas?" "Nein. Mir ist nur kalt." Durch die verschlossenen Fenster kam nur wenig Tageslicht. An den Wänden, auf dem stumpfen Parkett und an ihren Mäntel zeichneten sich kleine Lichtflecken der Fensterläden ab. "Auch ohne Möbel ist alles gut wieder zu erkennen", sagte Robert. "Stimmt. Ich erinnere mich auch der Einrichtung. Schau, dies ist das Esszimmer." Marcel schritt ein paar Meter voraus. "Hier, genau hier hat der ovale Tisch gestanden." "Und hier, am schmalen Ende war Mutters Platz. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster." "Ja, und du hast dort zu ihrer rechten und ich hier zu ihrer linken Seite gesessen." Marcel lachte. "Und wenn mittags die Sonne schien, hat sie dich geblendet, schautest du Mutter an. Dann wolltest du, dass wir den Fensterladen schließen. Und Mutter sagte: 'Hab dich nicht so. Du brauchst mich ja nicht die ganze Zeit anschauen.' Du aber bestandest darauf, dass die Lade geschlossen wird. Und dann hattest du diese rhombusförmigen Lichtflecken im Gesicht. Du sahst zum Schießen aus." Marcel lachte. Robert ging ein paar Schritte zur Wand und drehte sich um. Da lachte Marcel so laut, dass es durch das Haus hallte, denn auf Roberts Gesicht waren wieder die Lichtflecken. Robert schaute seinen Bruder mit starrem Gesicht an. Da starb Marcels Lachen. "Entschuldige bitte." Sie gingen zurück in die Eingangshalle. "Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hier raus zu fahren und in längst vergangene Zeiten zu stöbern", sagte Marcel nach einer Weile. Seufzend schaute er die breite Treppe zum Obergeschoss hinauf. Vor dem Aufgang war eine Holzleiste zwischen der Wand und dem Treppengeländer befestigt. Robert ging an dem Aufgang vorbei in die dunkle Ecke zur Kellertür. Langsam zog er seine rechte Hand aus der Manteltasche und legte sie auf die rostende Klinke. Die Tür war verriegelt. "Ich sperre dich in den Keller, wenn du nicht hören willst und immer bei der Treppe herumlungerst", schimpfte die Haushälterin. "Deine Mutter braucht jetzt Ruhe." "Wo ist Marcel?" fragte Robert. Die Haushälterin schaute ihn erbost an. "Hast du schon deine Vokabeln gelernt?" Robert schüttelte den Kopf. "Na also, was willst du noch hier. An die Arbeit!" "Wo ist Marcel?" rief Robert und stampfte mit dem Fuß. Die Haushälterin schaute ihn einen Augenblick verständnislos an, dann verschwand sie in die Küche. "Ich war niemals im Keller", sagte Marcel und trat an die Seite seines Bruders. "Ich habe immer Angst gehabt dort hinunter zugehen." Auf die starren Gesichter der Brüder standen Schatten. Ein kalter Schauer erfasste Marcel. Nervös schloss er seinen Trenchcoat und ging eilig in die Mitte der Eingangshalle. Robert trat aus dem Dunkel der Nische. "Wenn ich an Mutter denke, sehe ich nur noch ihr vom Schmerz verzerrtes Gesicht", sagte Marcel. "Die letzten Tage sind mir in Erinnerung, damals, bevor sie starb. Schon seit Jahren sehe ich nichts anderes mehr. Ich sehe sie nur noch in dem Bett liegen, unter dieser kalkweißen Decke. Sie hatte zum Schluss gar keine Haare mehr. Und ihre Hände, diese schönen, aber kräftigen Finger. Das waren doch nur noch Knorpel." Marcel schaute sich um. "Ich glaubte, wenn ich hier raus fahre, mit dir zusammen, und das Haus noch einmal sähe, würde mir anderes in Erinnerung kommen. Aber..." Er drehte sich langsam in der dunklen Eingangshalle, dann wandte er sich der abgesperrten Treppe zu. "Weißt du, das wir eigentlich nie eine Familie waren?" Robert nickte. "Unseren Vater haben wir ja nicht gekannt. Und Mutter? Nur die wenigen Wochen im Sommer, in den Ferien, wenn wir in diesem Haus wohnten, waren wir zusammen." Marcel ging hin und her. Plötzlich blieb er stehen. "Wenn ich die Augen schließe, dann glaube ich, ja dann höre ich sie spielen: Schumann..." "Ja!" schrie Robert. Marcel schreckte auf und schaute seinen Bruder verwundert an. "Was ist?" "Du bist bei ihr oben gewesen!" "Ich verstehe nicht?" Robert wehrte ab und vergrub seine Hände wieder in den Manteltaschen. "Ach nichts. Entschuldige bitte." Marcel schlenderte bis zur Absperrung der Treppe. Er schaute hoch. Oben, an der weißen Wand des Flures schwankte der Schatten eines Fensterkreuzes. "Du meinst, ich war bei Mutter oben, wenn sie im weißen Salon spielte. Als sie nicht gestört sein wollte und uns fort schickte." Er schaute zu seinen Bruder hinüber. "Als sie dich wegschickte." Robert nickte. "Du hast ihre Musik nicht gemocht", sagte Marcel. "Sie hatte Angst gehabt." "Angst?" "Du bist einmal heimlich in ihrem Salon gewesen. Mutter erzählte es mir. Sie kam herein und du standest auf der Bank. Du beugtest dich über den Flügel. Was hattest du vor?" Robert wandte sich ab und ging ein paar Schritte über das knarrende Parkett. "Du warst eifersüchtig auf ihre Musik", rief ihm Marcel nach. "Du nicht?" "Ja, sie hatte viel gespielt. Sehr viel. Sie hatte ihre Musik geliebt, vielleicht mehr als uns. Ich weiß es nicht. Aber ich habe es gemocht, wie sie spielte. - Weiß du, das in dem Salon nur der Flügel stand und die schmale Bank, auf der sie saß? Nicht einmal Bilder hingen an der Wand." "Mag sein", sagte Robert. Marcel legte seine Hände auf die Absperrung und schaute die Treppe hinauf. Plötzlich zerrte er an der Absperrung. "Was machst du da?" Krachend zersplitterte die Leiste. "Ich will den weißen Salon noch einmal sehen!" "Die Treppe, sei vorsichtig!" Langsam stieg Marcel die Stufen hinauf. Der Wind zerrte wütend am Dach. An der Wand pulsierte der Schatten des Fensterkreuzes. Marcel war schon fast oben, als er sich umschaute und sagte: "Die knarren nicht einmal." "Warte, ich komme mit", rief Robert und betrat die erste Stufe. Sofort sprang er zurück. Die Treppe bebte, krachend verschlang sie Marcel zwischen den berstenden Bohlen. Staub wirbelte auf. Ein kalter Lufthauch ging durch die Halle. Robert starrte überrascht auf das Loch, das in der Treppe wie ein Krater klaffte. Dann lief er zur Kellertür und rüttelte an der Klinke, bis sie abbrach. Hinter der Tür hörte er seinen Bruder stöhnen. "Warum wolltest du auch in den Salon!" Er lief zur Treppe zurück. Vorsichtig zog er sich am Geländer hoch bis zu dem dunklen Loch. Muffige, nasse Luft stieg ihm entgegen. Er zündete sein Feuerzeug und hielt die wild flackernde Flamme hinab. Nur undeutlich konnte er seinen Bruder auf der untersten Kellerstufe erkennen. Ein schwankender Balken behinderte die Sicht. Mit der linken Hand packte er den Balken. Marcel bewegte sich. Einen Augenblick verharrte Robert, dann drückte er vorsichtig den Balken zur Seite. Da brach er ab. Robert versuchte, ihn zu ergreifen - vergeblich. Ein dumpfer, hohler Schlag hallte aus dem Keller. "Marcel!" Im Flackerschein sah Robert das Blut überströmte Gesicht bis ein heller Schmerz seine Finger durchzuckte und ihm das heiße Feuerzeug aus der Hand schlug. Marcel war im Dunkeln vergraben. Robert richtete sich auf und schaute hoch zum Flur. Kaum noch war der Schatten des Fensterkreuzes zu sehen. Bald würde es draußen dunkel sein. War da nicht Musik? Nein, sicher der Wind. Er wollte einen Schritt höher gehen, das Loch überschreiten. Aber drohend knackte das Holz. Langsam zog er sich zurück. Der weiße Salon blieb unerreichbar. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015