Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Donnerstag der Zwölfte Was spricht gegen einen abergläubischen Wissenschaftler? Richtig: Nichts. Das dachte Thomas auch und bemüht sich mit beiden Füßen gleichzeitig aus dem Bett zu steigen. Es soll ja auch Wissenschaftler geben - Mathematiker sogar - die im Lotto spielen. Nun war Thomas gar kein Wissenschaftler - noch nicht -, denn er studierte - Biologie -, und jener unvergessliche Donnerstag war der Tag vor Freitag dem Dreizehnten. Kein Grund also für die rote Lampe. Und so schlürfte er, seine müden Augen reibend, in die Küche und schaltet das Laptop ein, mit dem Super-Horoskop-Programm. Das Gerät schnurrte und Thomas füllte sich derweil ein Glas mit Milch. Dann ging er zum Fenster und blinzelte in den Tag. Die Sonne schien nicht und es regnete nicht. Ja war denn überhaupt ein Wetter? Na egal, dachte er, heute würde es ein ruhiger Tag: Vormittags eine Vorlesung, Nachmittags im Seminar, und Morgen, Freitag den Dreizehnten, wird es noch ruhiger, wahrscheinlich würde er nicht einmal aus dem Haus gehen. Thomas gähnte und fand es plötzlich überaus merkwürdig mit dieser freien Parklücke gegenüber dem Haus, in dessen dritte Etage er wohnte. Um diese Zeit, kurz vor acht Uhr am Morgen? Schließlich besaßen die Anwohner dieser Straße mehr Autos, weitaus mehr Autos als Parklücken vorhanden waren... Das Telefon klingelte. "Hallo Thomas, hier ist Jochen. Hast du heute Zeit?" "Klar, wolltest du kommen?" "So ist es. Im Laufe des Tages. Mit meinem neuen Auto." "Echt!" "Megaecht. Und rate mal was für einen." "Kein Schimmer." "So einen wie du ihn hast! Einen Opel. Genau die gleiche Farbe: so ein wunderbar hässliches Grün; die gleiche Innenausstattung. Gleich alt. Zum verwechseln. Hab' ihn seit drei Tagen." "Was du nicht sagst." "Bis später." Thomas legte den Hörer auf und schlurfte in die Küche zurück. Das Laptop verlangte die Eingabe seiner persönlichen Daten. Er aber ging noch einmal zum Fenster und schaute hinaus. Die Parklücke! Schlagartig erkannte er ihre Bedeutung. Sein Auto war verschwunden. Futsch. Oder doch nicht? Er riss das Fenster auf, schaute die Straße rechts runter, links rauf, aber das Auto war nicht zu sehen. Thomas jagte ins Treppenhaus, die Stufen hinab, raus auf die Straße, mangelte fast den alten Kohlmeyer um und schon stand er auf dem freien Platz, mitten drauf, drehte sich um die eigene Achse und stierte einmal in die Runde um letztendlich die Parklücke mit seiner ganzen baffen Ratlosigkeit auszufüllen. "Suchen Sie was?" fragte der alte Kohlmeyer, der ob der Eile des jungen Mannes hinter her getippelt kam. "Mein Auto!" "Ist es weg?" "Ja. Hier hatte ich es geparkt. Gestern. Genau hier!" Thomas wies auf die Lücke, dann schaute er zum Kohlmeyer, als könne der Alte ihm helfen, als wüsste der Rat. Und der wusste auch was: "Wenn der Wagen weg ist, nun, dann wird er geklaut sein. Ist ja so üblich, - heutzutage." "Geklaut?" "Ja. Müssen Sie anzeigen. Bei der Polizei." Der Polizeibeamte war routiniert aber freundlich. "Wir melden uns, falls wir den Wagen finden", hatte er zum Abschied gesagt, dabei das Wörtchen "falls" betont. Zur Vorlesung kam Thomas zu spät. An der Uni erntete er süffisante Sprüche. "Was für ein Pech. Nun bist du über Nacht Umweltschützer geworden." Sein Vater erklärte die versicherungsrelevanten Aspekte, seine Mutter fragte, ob ihm auch nichts passiert sei. In der Unibibliothek bemerkte eine Studienkollegin, das doch noch gar nicht Freitag der Dreizehnte sei. Und plötzlich, ja, genau dort unten, neben der abgetakelten Staatskarosse, stand ein giftgrüner Opel. Einzigartig diese Farbe! Thomas klappte das Buch zu, rannte durch den Lesesaal, die Stufen hinab, hinüber zum Parkplatz. Wirklich - nicht eingebildet - nicht geträumt - absolut unbegreiflich: da stand sein Gefährt. Auf der Fahrerseite war die Scheibe etwas runter gedrückt. Sonst aber war kein Schaden zu entdecken. Den Wagenschlüssel hatte Thomas noch in seine Tasche. Er öffnete die Tür, zündete und schon war er auf dem Weg zum Polizeirevier. "Sind sie sicher, dass Sie den Wagen nicht selbst dort geparkt haben?" Der Polizeibeamte schob seine Brille auf die Nase und stützte sich auf den Tresen, um im Gesicht von Thomas die Wahrheit zu suchen. "Aber ganz sicher!" empörte sich Thomas. "War auch nur so eine Frage." Der Beamte richtete sich auf. "Dennoch haben Sie einen Fehler gemacht. Sie hätten uns sofort benachrichtigen sollen. Vielleicht wären die Diebe zurückgekommen und wir hätten sie fassen können. So aber haben Sie ihnen den Wagen geklaut ohne das wir nun etwas ausrichten können." Er hatte sein Auto wieder, das war das Wichtigste. Was interessierten ihn die Diebe? Thomas verließ das Polizeirevier, ging über die Straße, daran denkend, das sein Freund gesagt hatte, er habe den gleichen Wagen und das er schon daran gedacht hatte -, aber da fiel ihm das Laptop ein, denn er hatte es vergessen auszuschalten, dass es also noch immer mit dem Super- Horoskop-Programm auf seine persönlichen Daten wartete, das dieser Tag doch nicht so ruhig verlief, wie er es sich gedacht hatte, dass die Frau mit ihrer Einkaufstasche dort am Straßenrand einen recht verdatterten Gesichtsausdruck hatte, das er verdammt noch eins, seinen Wagen nicht fand, "ich hatte ihn doch hier geparkt, neben diesem roten Transporter, genau dort hatte er gestanden, wo jetzt wieder nichts ist als eine leere Parkbucht, genau dort, verdammt noch eins, mir haben sie schon wieder mein Auto geklaut. Das kann doch nicht wahr sein. Nein!" "Haben Sie das gesehen, junger Mann?" Thomas schaute der irgendwie verwirrten Frau ins Gesicht, er schüttelte seinen Kopf und wies fragend auf den leeren Parkplatz. "Mein Auto! Haben Sie mein Auto gesehen? Einen grünen Opel, hell grün?" "Das war Ihr Auto? " - Thomas nickte. - "Ja, das habe ich wohl gesehen: Es hätte mich fast um gefahren! So eine Unverschämtheit, dort" - sie zeigte auf den Autobahnzubringer - "ist es davon gejagt. Und dort" - sie zeigte auf den Zebrastreifen vor dem Polizeirevier - "hätte es mich fast erwischt. Ich zitter noch am ganzen Leib." Thomas bat die Frau mit auf das Revier zu kommen, vor den Tresen des ihm nun schon bekannten Polizeibeamten, der auch sofort seine Brille auf die Nase rutschen ließ. Und weil die Frau die Angaben von Thomas bestätigte, nahm der Beamte die Anzeige entgegen. "Dann haben Sie ja wirklich Pech, junger Mann", sagte der Beamte. "Heute ist ja noch nicht einmal der 13." Der Tag zumindest war gelaufen. Jochen ließ sich auch nicht blicken und nachdem Thomas das Seminar überstanden hatte, versenkte er sich in die Zeitschriften eins Cafés, gleich in der Nähe der Uni. Abends wechselte er von dort direkt in die Studentenkneipe. Hier sprach er reichlicher als sonst dem Bier zu. Nach einigen Stunden, er hatte den Verlust schon leidlich überwunden, trat er auf die Straße um frische Luft zu atmen und glaubte seinen Augen nicht. "Mein doppelt geklauter giftgrüner Opel, unverwechselbar", murmelte er. Auf dem Absatz kehrt machend jagte er in die Kneipe, drängte sich zum Tresen, ließ sich das Telefon reichen und rief die Polizeiwache an. Darauf drängte er zurück, stürmte auf die Straße und versteckte sich hinter einer Litfaßsäule. Es dauerte auch nicht lange und ein Streifenwagen hielt in einer Seitenstraße. Ein Polizist stieg aus. Thomas ging hin und gab sich zu erkennen. Der junge Beamte forderte ihn auf, in die Kneipe zurück zu gehen oder nach Hause. Die Beamten wollten über Nacht ein Auge auf den Wagen werfen, denn jugendliche Banden hatten nun auch in dieser Stadt ihren Spaß gefunden, mit geklauten Autos durch die Gegend zu rasen. Schon schickte sich Thomas der Weisung, da trat plötzlich ein Mann auf die Straße, ging zu dem Wagen und machte sich an der Tür zu schaffen. Flugs war der Mann von den Beamten umstellt. Er schien verwundert als er seine Papiere vorweisen musste. Thomas näherte sich neugierig dem Ereignis, denn plötzlich hatte er so ein Gefühl. Einer der beiden Polizisten sprach in sein Funkgerät, der andere blätterte in den Papieren, und schaute immer wieder auf den Wagen. Der Mann schien nun ungehalten, Thomas kam noch ein paar Schritte näher. "Jochen!" Der Mann drehte sich um. "Thomas!" "Oh, die Herrn kennen sich?" Die Polizist schauten zwischen beiden hin und her. "Was machst du denn mit meinem Auto?" fragte Thomas etwas bemüht, weil ihm die Worte dank der vielen Biere quer über die Lippen flossen. "Dein Auto. Spinnst du? Ist doch mein Neuer!" Die Radioantenne auf der rechten Seite, das unbeschädigte Fenster, das ganz andere Nummernschild, - Peinlich! "Das nächste mal schauen Sie sich den Wagen genau an, bevor Sie uns rufen", gifteten die Polizeibeamten zum Abschied. Die nassen Straßen schimmerten im Licht der Laternen, als Jochen mit Thomas nach Hause fuhr. "Ein Pechtag. Wirklich: sich zweimal das Auto klauen zulassen. Du bist zu bedauern." Thomas brütete wortlos vor sich hin, als sie in die Schellingstraße ein bogen und bis zur Kreuzung am Bürgerpark fuhren, dort an der Ampel warteten. Es war Mitternacht. Die Straßen waren leer und der Nachrichtensprecher verkündete die Katastrophen der Welt. Da kam von rechts ein Wagen, bog mit surrenden Reifen in die Schellingstraße ein, hatte eine Radioantenne auf der linken Seite, hatte eine nicht ganz verschlossene Scheibe auf der Fahrerseite, war hässlich grün und hatte ein Kfz- Kennzeichen, das Thomas sehr gut kannte. "Mein Auto!" "Dein Auto?" "Ja!" Geistesgegenwärtig schlug Jochen das Lenkrad ein, gab Gas, die Reifen quietschten, Thomas schlug mit dem Kopf an die Scheibe und schon jagte Jochens hässlich grüner Opel hinter Thomas hässlich grünem Opel her. "Halt!" rief Thomas. "Dein Auto, da fährt der Dieb!" "Halt!" schrie Thomas und Jochen trat auf die Bremse, von dem heftigen Einwand seines Freundes überzeugt. Er ließ den Wagen ausrollen, während vor ihnen der Zwilling mit hohem Tempo in eine Nebenstraße verschwand. Thomas tippte auf die Uhr. "Na und? Was soll das. Da fuhr jemand mit deinem Auto." "Mitternacht." "Versteh ich nicht?" "Mann! heute ist Freitag der Dreizehnte!" "Ne?" "Ja, bloß keine Action! Viel zu gefährlich." Der Nachrichtensprecher wünschte eine gute Nacht. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Donnerstag der Zwölfte Was spricht gegen einen abergläubischen Wissenschaftler? Richtig: Nichts. Das dachte Thomas auch und bemüht sich mit beiden Füßen gleichzeitig aus dem Bett zu steigen. Es soll ja auch Wissenschaftler geben - Mathematiker sogar - die im Lotto spielen. Nun war Thomas gar kein Wissenschaftler - noch nicht -, denn er studierte - Biologie -, und jener unvergessliche Donnerstag war der Tag vor Freitag dem Dreizehnten. Kein Grund also für die rote Lampe. Und so schlürfte er, seine müden Augen reibend, in die Küche und schaltet das Laptop ein, mit dem Super-Horoskop-Programm. Das Gerät schnurrte und Thomas füllte sich derweil ein Glas mit Milch. Dann ging er zum Fenster und blinzelte in den Tag. Die Sonne schien nicht und es regnete nicht. Ja war denn überhaupt ein Wetter? Na egal, dachte er, heute würde es ein ruhiger Tag: Vormittags eine Vorlesung, Nachmittags im Seminar, und Morgen, Freitag den Dreizehnten, wird es noch ruhiger, wahrscheinlich würde er nicht einmal aus dem Haus gehen. Thomas gähnte und fand es plötzlich überaus merkwürdig mit dieser freien Parklücke gegenüber dem Haus, in dessen dritte Etage er wohnte. Um diese Zeit, kurz vor acht Uhr am Morgen? Schließlich besaßen die Anwohner dieser Straße mehr Autos, weitaus mehr Autos als Parklücken vorhanden waren... Das Telefon klingelte. "Hallo Thomas, hier ist Jochen. Hast du heute Zeit?" "Klar, wolltest du kommen?" "So ist es. Im Laufe des Tages. Mit meinem neuen Auto." "Echt!" "Megaecht. Und rate mal was für einen." "Kein Schimmer." "So einen wie du ihn hast! Einen Opel. Genau die gleiche Farbe: so ein wunderbar hässliches Grün; die gleiche Innenausstattung. Gleich alt. Zum verwechseln. Hab' ihn seit drei Tagen." "Was du nicht sagst." "Bis später." Thomas legte den Hörer auf und schlurfte in die Küche zurück. Das Laptop verlangte die Eingabe seiner persönlichen Daten. Er aber ging noch einmal zum Fenster und schaute hinaus. Die Parklücke! Schlagartig erkannte er ihre Bedeutung. Sein Auto war verschwunden. Futsch. Oder doch nicht? Er riss das Fenster auf, schaute die Straße rechts runter, links rauf, aber das Auto war nicht zu sehen. Thomas jagte ins Treppenhaus, die Stufen hinab, raus auf die Straße, mangelte fast den alten Kohlmeyer um und schon stand er auf dem freien Platz, mitten drauf, drehte sich um die eigene Achse und stierte einmal in die Runde um letztendlich die Parklücke mit seiner ganzen baffen Ratlosigkeit auszufüllen. "Suchen Sie was?" fragte der alte Kohlmeyer, der ob der Eile des jungen Mannes hinter her getippelt kam. "Mein Auto!" "Ist es weg?" "Ja. Hier hatte ich es geparkt. Gestern. Genau hier!" Thomas wies auf die Lücke, dann schaute er zum Kohlmeyer, als könne der Alte ihm helfen, als wüsste der Rat. Und der wusste auch was: "Wenn der Wagen weg ist, nun, dann wird er geklaut sein. Ist ja so üblich, - heutzutage." "Geklaut?" "Ja. Müssen Sie anzeigen. Bei der Polizei." Der Polizeibeamte war routiniert aber freundlich. "Wir melden uns, falls wir den Wagen finden", hatte er zum Abschied gesagt, dabei das Wörtchen "falls" betont. Zur Vorlesung kam Thomas zu spät. An der Uni erntete er süffisante Sprüche. "Was für ein Pech. Nun bist du über Nacht Umweltschützer geworden." Sein Vater erklärte die versicherungsrelevanten Aspekte, seine Mutter fragte, ob ihm auch nichts passiert sei. In der Unibibliothek bemerkte eine Studienkollegin, das doch noch gar nicht Freitag der Dreizehnte sei. Und plötzlich, ja, genau dort unten, neben der abgetakelten Staatskarosse, stand ein giftgrüner Opel. Einzigartig diese Farbe! Thomas klappte das Buch zu, rannte durch den Lesesaal, die Stufen hinab, hinüber zum Parkplatz. Wirklich - nicht eingebildet - nicht geträumt - absolut unbegreiflich: da stand sein Gefährt. Auf der Fahrerseite war die Scheibe etwas runter gedrückt. Sonst aber war kein Schaden zu entdecken. Den Wagenschlüssel hatte Thomas noch in seine Tasche. Er öffnete die Tür, zündete und schon war er auf dem Weg zum Polizeirevier. "Sind sie sicher, dass Sie den Wagen nicht selbst dort geparkt haben?" Der Polizeibeamte schob seine Brille auf die Nase und stützte sich auf den Tresen, um im Gesicht von Thomas die Wahrheit zu suchen. "Aber ganz sicher!" empörte sich Thomas. "War auch nur so eine Frage." Der Beamte richtete sich auf. "Dennoch haben Sie einen Fehler gemacht. Sie hätten uns sofort benachrichtigen sollen. Vielleicht wären die Diebe zurückgekommen und wir hätten sie fassen können. So aber haben Sie ihnen den Wagen geklaut ohne das wir nun etwas ausrichten können." Er hatte sein Auto wieder, das war das Wichtigste. Was interessierten ihn die Diebe? Thomas verließ das Polizeirevier, ging über die Straße, daran denkend, das sein Freund gesagt hatte, er habe den gleichen Wagen und das er schon daran gedacht hatte -, aber da fiel ihm das Laptop ein, denn er hatte es vergessen auszuschalten, dass es also noch immer mit dem Super-Horoskop-Programm auf seine persönlichen Daten wartete, das dieser Tag doch nicht so ruhig verlief, wie er es sich gedacht hatte, dass die Frau mit ihrer Einkaufstasche dort am Straßenrand einen recht verdatterten Gesichtsausdruck hatte, das er verdammt noch eins, seinen Wagen nicht fand, "ich hatte ihn doch hier geparkt, neben diesem roten Transporter, genau dort hatte er gestanden, wo jetzt wieder nichts ist als eine leere Parkbucht, genau dort, verdammt noch eins, mir haben sie schon wieder mein Auto geklaut. Das kann doch nicht wahr sein. Nein!" "Haben Sie das gesehen, junger Mann?" Thomas schaute der irgendwie verwirrten Frau ins Gesicht, er schüttelte seinen Kopf und wies fragend auf den leeren Parkplatz. "Mein Auto! Haben Sie mein Auto gesehen? Einen grünen Opel, hell grün?" "Das war Ihr Auto? " - Thomas nickte. - "Ja, das habe ich wohl gesehen: Es hätte mich fast um gefahren! So eine Unverschämtheit, dort" - sie zeigte auf den Autobahnzubringer - "ist es davon gejagt. Und dort" - sie zeigte auf den Zebrastreifen vor dem Polizeirevier - "hätte es mich fast erwischt. Ich zitter noch am ganzen Leib." Thomas bat die Frau mit auf das Revier zu kommen, vor den Tresen des ihm nun schon bekannten Polizeibeamten, der auch sofort seine Brille auf die Nase rutschen ließ. Und weil die Frau die Angaben von Thomas bestätigte, nahm der Beamte die Anzeige entgegen. "Dann haben Sie ja wirklich Pech, junger Mann", sagte der Beamte. "Heute ist ja noch nicht einmal der 13." Der Tag zumindest war gelaufen. Jochen ließ sich auch nicht blicken und nachdem Thomas das Seminar überstanden hatte, versenkte er sich in die Zeitschriften eins Cafés, gleich in der Nähe der Uni. Abends wechselte er von dort direkt in die Studentenkneipe. Hier sprach er reichlicher als sonst dem Bier zu. Nach einigen Stunden, er hatte den Verlust schon leidlich überwunden, trat er auf die Straße um frische Luft zu atmen und glaubte seinen Augen nicht. "Mein doppelt geklauter giftgrüner Opel, unverwechselbar", murmelte er. Auf dem Absatz kehrt machend jagte er in die Kneipe, drängte sich zum Tresen, ließ sich das Telefon reichen und rief die Polizeiwache an. Darauf drängte er zurück, stürmte auf die Straße und versteckte sich hinter einer Litfaßsäule. Es dauerte auch nicht lange und ein Streifenwagen hielt in einer Seitenstraße. Ein Polizist stieg aus. Thomas ging hin und gab sich zu erkennen. Der junge Beamte forderte ihn auf, in die Kneipe zurück zu gehen oder nach Hause. Die Beamten wollten über Nacht ein Auge auf den Wagen werfen, denn jugendliche Banden hatten nun auch in dieser Stadt ihren Spaß gefunden, mit geklauten Autos durch die Gegend zu rasen. Schon schickte sich Thomas der Weisung, da trat plötzlich ein Mann auf die Straße, ging zu dem Wagen und machte sich an der Tür zu schaffen. Flugs war der Mann von den Beamten umstellt. Er schien verwundert als er seine Papiere vorweisen musste. Thomas näherte sich neugierig dem Ereignis, denn plötzlich hatte er so ein Gefühl. Einer der beiden Polizisten sprach in sein Funkgerät, der andere blätterte in den Papieren, und schaute immer wieder auf den Wagen. Der Mann schien nun ungehalten, Thomas kam noch ein paar Schritte näher. "Jochen!" Der Mann drehte sich um. "Thomas!" "Oh, die Herrn kennen sich?" Die Polizist schauten zwischen beiden hin und her. "Was machst du denn mit meinem Auto?" fragte Thomas etwas bemüht, weil ihm die Worte dank der vielen Biere quer über die Lippen flossen. "Dein Auto. Spinnst du? Ist doch mein Neuer!" Die Radioantenne auf der rechten Seite, das unbeschädigte Fenster, das ganz andere Nummernschild, - Peinlich! "Das nächste mal schauen Sie sich den Wagen genau an, bevor Sie uns rufen", gifteten die Polizeibeamten zum Abschied. Die nassen Straßen schimmerten im Licht der Laternen, als Jochen mit Thomas nach Hause fuhr. "Ein Pechtag. Wirklich: sich zweimal das Auto klauen zulassen. Du bist zu bedauern." Thomas brütete wortlos vor sich hin, als sie in die Schellingstraße ein bogen und bis zur Kreuzung am Bürgerpark fuhren, dort an der Ampel warteten. Es war Mitternacht. Die Straßen waren leer und der Nachrichtensprecher verkündete die Katastrophen der Welt. Da kam von rechts ein Wagen, bog mit surrenden Reifen in die Schellingstraße ein, hatte eine Radioantenne auf der linken Seite, hatte eine nicht ganz verschlossene Scheibe auf der Fahrerseite, war hässlich grün und hatte ein Kfz-Kennzeichen, das Thomas sehr gut kannte. "Mein Auto!" "Dein Auto?" "Ja!" Geistesgegenwärtig schlug Jochen das Lenkrad ein, gab Gas, die Reifen quietschten, Thomas schlug mit dem Kopf an die Scheibe und schon jagte Jochens hässlich grüner Opel hinter Thomas hässlich grünem Opel her. "Halt!" rief Thomas. "Dein Auto, da fährt der Dieb!" "Halt!" schrie Thomas und Jochen trat auf die Bremse, von dem heftigen Einwand seines Freundes überzeugt. Er ließ den Wagen ausrollen, während vor ihnen der Zwilling mit hohem Tempo in eine Nebenstraße verschwand. Thomas tippte auf die Uhr. "Na und? Was soll das. Da fuhr jemand mit deinem Auto." "Mitternacht." "Versteh ich nicht?" "Mann! heute ist Freitag der Dreizehnte!" "Ne?" "Ja, bloß keine Action! Viel zu gefährlich." Der Nachrichtensprecher wünschte eine gute Nacht. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015