Wohnungssuche mit Butter und Seife
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie
mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei
ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark.
"Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von
dem Telefonat hörte.
"Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."
"Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."
"Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zu viel verlangt. Da gibt es ganz andere
Forderungen."
"Eben."
"Wann sollst du kommen?"
"Um halb sechs."
"Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."
Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.
"Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die
Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."
Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des dreistöckigen
Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.
Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblassten Namen auf
den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.
Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt
hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.
"Und wenn Sie meinen, Sie müssten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur
denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere
Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.
Marianne drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich
öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen
vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.
"Sind Sie Frau Friedrichs?"
Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann,
bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.
Marianne nickte.
"Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das
sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine
Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"
Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.
"Sehr gut. Geben Sie mir."
Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß,
nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich
legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte
Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die
nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."
"Wie viel schulde ich Ihnen?" fragte er.
"Sie wollen bezahlen?"
"Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"
"Ich..."
"Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich
noch."
Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige
Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.
"Gehen Sie nun. Gehen Sie hinauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."
Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne
schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei.
"Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.
Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.
"Ja oder Nein?"
"Ja, ich lebe allein."
"Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, dass Ihnen die Wohnung zusagt."
"Was soll sie kosten?"
"Kosten? Ach was. Gehen Sie erst hinauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere
danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.
"Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"
Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang
der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war
es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein
Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem
Vorhängeschloss gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war
nicht verschlossen.
Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke
rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den
zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste.
Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste
Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses
Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem
Eingang.
Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem
am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt.
Eingefroren".
Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in
denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der
Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster
öffnen.
Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlich schwarze Dächer zu
einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom
Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?
Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden
Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch,
legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.
"Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.
Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne
hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.
Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief
sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus
weiter Ferne erschallte ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke.
Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.
In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den
anderen Gerüchen vermischt.
Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wusste ja nicht einmal
seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf
und stand auf dem Bürgersteig.
Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre
Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr
Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den
Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.
Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie
einen Packen Toilettenpapier.
"Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe
schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.
(c) Klaus Dieter Schley