Martinis Poesie
Martini drückte den Knopf über dem gedruckt steht
Bitte drücken.
Das öffentliche Verkehrsmittel schaukelte in die Haltebucht. Dem feucht warmen Fahrgastraum
entstiegen, klappte Martini den Mantelkragen hoch und lief die Rolltreppe hinab, in die
Geschäftspassage unter die Fahrbahn.
Menschen rollten ihm entgegen.
Nach einer Weile war er wieder unter freiem Himmel. Vor dem Hauseingang mit dem silbernen
Schild
Dr. Brinkmann Dr. Kohlbrecher Dr. Filmer
Rechtsanwälte und Notare
prallte Martini mit einem Mann zusammen. Martinis Schulter schmerzte, der Mann stürzte wortlos
davon.
Vielfarbiges Licht, erhellend, signalisierend, anzeigend: freudig wurde die Dämmerung begrüßt.
Auch Martinis Augen hingen an einem roten Männchen. Nachdem ein grünes aufleuchtete, trabten
Herden los, vermischten sich und erreichten die Ufer.
Kaum das er die große Glastür aufgezogen hatte, strömte ihm warme Luft entgegen. Tische,
Regale, gefüllt mit Mannigfachem, welches gierte genommen zu werden von den sich stoßenden
Kunden.
Martini beobachtete, wie eine Frau einen Pantoffel aus der Menge der auf einem Tisch liegenden
Pantoffeln zog, ihn von allen Seiten anschaute, knetete und ihn zurückfallen ließ.
Er drehte sich um. Am Zeitungsstand las er:
Aufschwung in Gefahr
Martini rollte in die Haushaltswarenabteilung. Vor dem Regal mit den Sektgläsern, Weingläsern,
Biergläsern und Likörgläsern blieb er stehen. Mit schalem Blick schaute er sich um. Aus seiner
Manteltasche zog er eine Plastiktüte, faltete sie auf und schwupp: da war das Sechserpak
Biergläser verschwunden.
Gelangweilt schwänzelte Martini durch die Regalreihen, dann rollte er abwärts. Auf dem Weg zur
großen Tür fing ihn bunter Duft der Süßwarenabteilung. Eine Tüte Bonbons kaufte er. Zwischen der
äußeren und der inneren Tür blieb Martini stehen und dachte:
Ein Haus in dem alles gekauft werden kann
Der warme Luftstrom reizte ihn zum Niesen.
Martini lief durch die Zone. Fußgänger spritzten hin und her, in die Läden rein und raus. Plötzlich
entdeckte er einen freundlichen Herrn: schwarzer Hut, schwarzer Anzug, breites, onkelhaft
lächelndes Gesicht. Der Mann hielt eine Tüte in seine Hand.
Martini stieß achtlos an dem Pappherrn vorbei in das Geschäft und stellte sich an das Ende der
Schlange. Als die Reihe an ihm war sagte er:
Schwarz mit Zucker
Die hell-braun bekleidete Dame antwortete:
Eine Mark
Seine Tasse balancierte Martini vorbei an zwei sich unterhaltende Männer auf einen kleinen runden
Tisch. Martini hörte einen der beiden Männer sagen:
"Meine Frau möchte, dass das Wohnzimmer neu tapeziert wird!" worauf der andere Mann
erwiderte:
"Bei mir sind die Tapeten auch schon recht alt. Aber ich bin ja nicht verheiratet!"
Martini leerte seine Tasse und ließ sie vom Mund kommend direkt in seine Plastiktüte
verschwinden, darauf die Untertasse und den Löffel. Dann begab er sich zurück auf die Zone.
Vor einem Schaufenster verweilte er einen Augenblick. Soeben wurde ein neues Poster sorgfältig
ausgerichtet. Martini laß:
Erleben Sie Ihr ganz individuelles Urlaubsabenteuer
Müde rieb Martini sich die Augen.
Langsam bummelte er zur anderen Seite und verschwand in einem Fotofachgeschäft. Interessiert
ließ er sich eine Spiegelreflexkamera erklären. Nachdem Martini gegähnt hatte, bot der Verkäufer
an, die alte Kamera in Zahlung zu nehmen. Martini bat um Prospekte. Der Verkäufer verschwand
hinter einem Vorhang, Martini entnahm aus dem neben dem Tresen stehenden Regal eine Packung
24 x 36, 18 DIN, Entwicklung ohne Rahmung
und ließ sie in seine Plastiktüte plumpsen. Kaum war das Geräusch der in die Tüte stürzenden
Packung verhallt, riss der Verkäufer den Vorhang beiseite, breitete sorgfältig vier Prospekte auf den
Tresen aus und sagte:
"Von allen Kameras, die wir verkaufen, haben wir ausführliche Beschreibungen!"
Martini schenkte den farbigen Prospekten keinen Blick und meinte:
"Die Spiegelreflexkamera nehme ich. Zuvor möchte ich aber mit meine Frau darüber reden, die hat
mehr Kenntnisse in solchen Dingen als ich."
Der Verkäufer sagte lächelnd:
"Ja, machen sie das."
Und schon stand Martini wieder im Freien.
An der großen Videothek vorbei ging Martini direkt zu der neuen Bankfiliale, welche in kurzer Zeit
errichtet wurde auf dem Grundstück der alten Stadtbücherei. Martini verschwand hinter der
getönten, sich automatisch öffnenden Glastür. Nach einer Weile bog ein Streifenwagen in die Zone
und hielt direkt vor der Bank. Zwei junge Polizeibeamte sprangen aus dem Fahrzeug und eilten
zum Eingang der Videothek, vor der ein alter Mann grölte und mit einer Flasche auf die Passanten
eindrosch, jedoch keinen traf, derweil sie alle einen großen Bogen um ihn machten. Die Beamten
rissen dem Mann die Flasche aus der Hand, zerrten ihn zum Streifenwagen und durchsuchten die
Taschen seiner zerlumpten Kleidung.
Martini verließ die Filiale, drängelte sich "Entschuldigung" murmelnd durch die Menge vorbei an
dem Streifenwagen, in dem gerade ein jammernder Mann gestopft wurde und schritt in wenigen
Minuten aus die Zone heraus, durch einen Tunnel für Fußgänger zur anderen Seite der breiten
Straße, an der eine Werkstatt für kräftige Fahrzeuge lag.
Martini ging in die Auftragsannahme. Mit einem bärtigen Mann, der mit einem sauberen grauen
Arbeitskittel bekleidet war, in dessen Brusttasche drei Kugelschreiber und drei Schraubendreher
steckten, ging Martini zum Parkplatz vor die Werkstatt. Sie umkreisten einen dunkelblauen 320 D.
Martini sagte:
"Saubere Arbeit. Von dem Schaden ist nichts mehr zu sehen!"
Dann setzte sich Martini in den Wagen, der bärtige Kittelträger rief zufrieden:
"Gute Fahrt, Herr Direktor!"
und hurtig reihte sich Martini in den Stau ein.
(c) Klaus Dieter Schley