Rache für Blutbruder Jan
Dirk hüpfte am Eingang des Heckenganges immer. Eine Gewohnheit die er mit seinem Freund bis
vor ein paar Wochen noch teilte. Ob Jan ihm dabei zuschaute? Mutter hatte ja gesagt, das sie es
können.
Nach einigen Metern wurde er langsamer. Nur noch alle drei, vier Schritte sprang er hoch; einfach
mal so. Dann unterließ er auch das. Irgendwann griff er wie jeden Abend in seine Hosentasche und
wühlte nach dem Zettel. Er war noch da, war nicht von der Mutter heraus geschüttelt worden, wenn
er Abends die Hose ausgezogen und über den Stuhl gelegt hatte. Der Zettel war wichtig. Aus
irgendeinem Grund vergaß er immer eines der Worte. Deshalb hatte er sie sich notiert. Genau in
der Reihenfolge, in der sie in dem Buch für Fahrschüler angegeben waren. Er würde es richtig
machen. Das hatte er seinem Freund versprochen, dem er ja auch die Rache versprochen hatte.
Seinem Blutsbruder war man das einfach schuldig.
Mutti sagte, das er gerne jeden seiner Klassenkameraden mitbringen könne, um die Hausarbeiten
zu machen und natürlich auch zum Spielen. Er solle sich bloß nicht zu viele Gedanken machen.
Jan habe es jetzt bestimmt ganz gut, und er dürfe auch etwas an sich selbst denken. Das sagte sie
ihm bald jeden Tag.
Neulich, als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil er plötzlich großen Durst bekommen
hatte, war er aufgestanden um etwas zu trinken. Auf dem Weg zur Küche hörte er, wie sich seine
Eltern unterhielten. Obwohl sie in ihrem Schlafzimmer waren und leise sprachen, konnte er alles
durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür verstehen. Sie sprachen über Jan und über ihn.
Seine Mutter betonte immer wieder, dass sie sich Sorgen machte.
"Hoffentlich ist das mit Jan kein Schlüsselerlebnis."
Ja, Schlüsselerlebnis hatte sie gesagt. Mehrmals sogar. Und er merkte sich dieses komische Wort,
schon weil er vor der Tür stand und auf das Schlüsselloch schaute. Seitdem musste er immer an
das unverständliche Wort denken, wenn er am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei kam. Aber warum
sollte er sich Gedanken machen über ein Wort, das er nicht einmal im Lexikon gefunden hatte?
Entscheidend war, dass ihm Jan fehlte.
Jan war sein bester Freund. Die anderen in der Schule waren gegen ihn nichts. Mit Jan hatte er
sich verstanden. Mit ihm war er in den Schrebergärten herum gestreift, war er über die Straße in
den kleinen Wald gelaufen. Dort hatten sie oft Spechte beobachtet, wie sie ihre Nester schlugen,
und Eichhörnchen und Kaninchen, die sich an ihre Gegenwart gewöhnt zu haben schienen und
selten davon liefen. Mit ihm war er zum großen Einkaufsmarkt gegangen, um die Leuten zu
beobachte wenn sie auf den Parkplatz fuhren und ein parkten. Alle möglichst dicht beim Eingang.
Sie sahen wie die Leute ausstiegen und sich einen Korbwagen holten, mit dem sie in dem großen
Bau verschwanden, und aus dem sie nach einiger Zeit wieder herauskamen und auf ihre Autos
zusteuerten. Manche schauten sich nach ihrem Auto suchend um, oder irrten gar mit dem voll
gepackten Einkaufswagen über den Parkplatz, bis sie ihr Auto endlich gefunden hatten. Dann
lachte Jan ganz laut. Und weil Jan lachte, lachte auch Dirk. Und so saßen sie zum Beispiel auf dem
Altglasbehälter und amüsierten sich über die Menschen. So etwas war nur mit Jan möglich.
Dirk ging jetzt ganz langsam. Da war sie wieder die Stelle, an der er mit Jan an jenem Abend
gebalgt hatte. Einfach so. Weil es Spaß macht mit einem guten Freund herum zu tollen, sich mit
ihm zu drücken, zu stoßen und die Arme zu wringen und sich dann auf dem Boden zu wälzen. Hier,
an dieser Stelle hatte er über Jan gesiegt. Dirk hatte sich aus seinem gefährlichen Schwitzkasten
befreit und es geschafft ihn in die Hecke zu stoßen. Immer wieder und immer kräftiger bis er ganz
tief in die kleine Hecke verschwunden war und kaum noch aus eigener Kraft heraus konnte. Dirk
hatte vor ihm gestanden und über den zappelnden Käfer gelacht; er hatte ihn verspottet und ihm
auf die Füße getreten. Und erst nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, und Jan langsam ärgerlich
wurde, half ihm Dirk aus der misslichen Lage. Zurück blieb eine tiefe Beule in der Hecke,
abgeknickte Zweige und viele zerquetschte und abgefallene Blätter. Weil plötzlich nicht weit von
ihnen ein Mann aus einem der Schrebergärten auf den Heckengang trat und zu ihnen hinüber
schaute, liefen sie lachend davon. Schon bald nahmen sie ihre freundschaftliche Fehde wieder auf,
indem sie sich - während sie liefen - behinderten oder schubsten, so das mal Jan ihm, dann wieder
er Jan nachstellte. Bis sie zur Straße kamen an jenem Abend vor fünf Wochen.
Dirk stand nun dort, wo er auch gestanden hatte als Jan in der Hecke saß und zappelte. Von der
Einbuchtung war kaum noch etwas zu sehen. Die nicht abgeknickten Zweige waren an ihrer
natürlichen Stelle zurück gefedert, und frische Blätter sprossen aus den dünnen Zweigen. Dirk
hockte sich dicht davor und berührte die jungen Blätter. Da, plötzlich sah er ihn zappeln. Einen
kurzen, ungreifbaren Moment. Dann war diese Erinnerung, die so nah und lebendig war,
verschwunden und Dirk sprang auf, von der Dämmerung gemahnt. Seine Eltern würden schon
warten. Aber er musste erst zur Straße. Heute auf jeden Fall!
Die Straße war nicht mehr weit, vielleicht gerade noch hundert Meter. Der Heckengang mündete
zwischen hohen, dicht zusammenstehenden Tannen, mit denen sich die Kleingärtner etwas gegen
die vorbei brausenden Autos schützten. Dem Heckengang schräg gegenüber führte ein kleiner Weg
ab, mit einer Buskehre und einer Telefonzelle. stadtauswärts säumten ein paar Eichen die Straße.
Nach dem Ortsschild führte die Straße durch den kleinen Wald, in dem er mit Jan oft gewesen war.
Im vergangenen Sommer hatten sie am Anfang des weiten Bogens am Straßenrand gehockt und
den Autos ein Pappschild entgegengehalten. Mit dunkelblauem Stift hatten sie eine fette Fünfzig
auf das Schild gemalt, und ein paar Leute winkten dankbar aus ihren Autos. Und alle wurden
erkennbar langsamer. Doch plötzlich war ein großer Polizist hinter ihnen aufgetaucht, mit einer
rauen Stimme und mit dunklen Augen. Der Polizist war nicht freundlich gewesen. Keiner von denen,
die in die Schule kamen, um die Fahrräder zu kontrollieren, wobei sie immer Späße machten. Der
große Polizist nahm ihnen das Pappschild weg, sagte, das sei verboten und befahl ihnen nach
Hause zu gehen. Als sie schon etwas von dem finsteren Mann weg waren, hatte sich Jan
umgedreht und ihm eine Nase gezeigt, und da haben sie beide gelacht.
Dirk hatte die Straße erreicht. Die Laternen leuchteten schon und die Autos fuhren mit Licht. Er
blieb ruhig am Straßenrand stehen und schaute ihnen hinterher. Die stadteinwärts fahrenden Autos
kamen aus dem Wald heran gebraust. Erst als sie den Heckengang passierten und dem weiten
Bogen der Straße folgten, bremsten sie. Aber nur bei einigen leuchteten die Rücklichter auf, die
meisten ließen ihren Wagen auslaufen. Die stadtauswärts fahrenden wurden dafür immer schneller,
wissend, daß sie bald am Ortsschild vorbei waren. Manche wurden von noch schnelleren mit
aufheulendem Motor überholt, als wollte sie wie ein Düsenjet abheben und in den weiten Himmel
entschwinden.
Dirk schaute zur Telefonzelle. Sie war besetzt. Ein alter Mann telefonierte schon die ganze Zeit.
Immer wieder von neuem steckte er eine Münzen in den Apparat. Hoffentlich würde er nicht zu
lange brauchen.
In der Dämmerung waren die Autos noch unheimlicher. Zwei dämonische Augen die sich über die
Straße fraßen und kein Erbarmen verrieten. Die Insassen waren kaum zu erkennen. Menschen
feindliche Wesen von eigenartiger Bewegungslosigkeit. Starr saßen sie da, keine Augen, kaum ein
Gesicht. Lebloser als die Puppen in seinen Modellautos.
Endlich verließ der alte Mann die Telefonzelle und schlürfte auf dem Weg jenseits der Straße
davon. Dirk überzeugte sich nochmals des Zettel in seiner Hosentasche.
Damals war er hinter Jan gelaufen und wollte ihn gerade am Kragen packen. Da war Jan sehr
schnell geworden. Und die Polizei hatte gesagt, das Auto muss mehr als siebzig Stundenkilometer
gefahren sein, vor fünf Wochen.
Nun war Dirk allein. Jan wird es jetzt besser haben, hatte seine Mutter gesagt und er hatte es Jan
versprochen, es war ja sein Bruder, sein Blutsbruder, wie Winnetou und Old Shatterhand
Blutsbrüder waren. Und sein Versprechen musste man halten. Das war ja klar. Deshalb stand Dirk
jetzt in der Mündung des Heckenganges, neben den großen Tannen, die einen weiten Schatten
warfen und das Licht der Straßenlaternen nicht in den Gang ließen. Nun war er ganz ruhig und
beobachtete den Verkehr, wobei er den Zettel in seiner Hosentasche festhielt.
Plötzlich musste Dirk an seine Eltern denken. Die sorgten sich jetzt bestimmt. Es war ja fast dunkel,
und als er an seine Eltern dachte bekam er etwas Angst. Weil die immer größer wurde, diese Angst,
hätte er beinahe nicht gemerkt, das auf der linken Seite kein einziges Auto fuhr. Alles war dunkel
dort draußen, kein Dämon! Erschrocken schaute Dirk nach rechts, da, nur ein einzelnes Auto
näherte sich, wie vor fünf Wochen, und es fuhr genauso schnell. Da lief er los, und mitten auf der
Straße erfasste ihn das Licht der Scheinwerfer. Abrupt blieb er stehen, sprang zurück, hörte Reifen
quietschen - wie vor fünf Wochen - lief in den Schatten der Tannen, spürte wie das Ungetüm an ihm
vorbei rauschte und konnte gerade noch sehen wie es über die Straße schleuderte, auf die
Gegenfahrbahn geriet, über sie hinaus schoss und mit einem schrecklichen Knall gegen eine Eiche
prallte. Dann war alles ruhig.
Dirk fasste in die Hosentasche. Sein Zettel war verschwunden. Verwirrt schaute er auf die Straße,
aber in dem Schatten der Tannen war nichts zu sehen. Auch musste er jetzt zur Telefonzelle, denn
schon kamen die nächsten Autos stadtauswärts und auch weit draußen im Wald blitzten
Scheinwerfer auf. So schnell er nur konnte lief er über die Straße, lief zur Buskehre wo die
Telefonzelle stand, öffnete die Tür, nahm den Hörer ab und riss den Hebel herunter, der an dem
Kasten neben dem Münzapparat hing und auf dem NOTRUF stand.
Mit zitternder Hand hielt Dirk den Hörer. In dem Kasten klapperte es und plötzlich meldete sich eine
Stimme während er zur Unfallstelle schaute. Dort hielten die ersten Autos. Ein Unfall sei
geschehen, sagte er mit brechender Stimme. Das eine Wort auf dem Zettel war WAS gewesen: ein
Unfall hatte er gesagt und das andere Wort war WO; daran konnte er sich erinnern und Dirk sagte,
wo er sich befand, aber dann musste er plötzlich weinen und hängte den Hörer ein. Dort draußen
hielten immer mehr Autos, und Menschen standen herum. Aber keiner kam zur Telefonzelle, wie
damals. Sie standen in einer Traube und schauten, aber er, er hatte schon angerufen.
Langsam ging er auf die Straße, zitternd am ganzen Körper. Ein paar Leute zogen einen Menschen
aus dem Dämon und sie legten ihn auf die Straße, nicht weit von der Stelle, wo auch Jan gelegen
hatte. Dieser Mensch blutete, aber er bewegte sich, seine Beine zuckten, als wollten sie etwas
Schreckliches abschlagen. Ach Jan, du hast es jetzt gut, dachte er und das er sein Versprechen
gehalten hatte.
(c) Klaus Dieter Schley