Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015
Klaus Dieter Schley, 2015
Rache für Blutbruder Jan Dirk hüpfte am Eingang des Heckenganges immer. Eine Gewohnheit die er mit seinem Freund bis vor ein paar Wochen noch teilte. Ob Jan ihm dabei zuschaute? Mutter hatte ja gesagt, das sie es können. Nach einigen Metern wurde er langsamer. Nur noch alle drei, vier Schritte sprang er hoch; einfach mal so. Dann unterließ er auch das. Irgendwann griff er wie jeden Abend in seine Hosentasche und wühlte nach dem Zettel. Er war noch da, war nicht von der Mutter heraus geschüttelt worden, wenn er Abends die Hose ausgezogen und über den Stuhl gelegt hatte. Der Zettel war wichtig. Aus irgendeinem Grund vergaß er immer eines der Worte. Deshalb hatte er sie sich notiert. Genau in der Reihenfolge, in der sie in dem Buch für Fahrschüler angegeben waren. Er würde es richtig machen. Das hatte er seinem Freund versprochen, dem er ja auch die Rache versprochen hatte. Seinem Blutsbruder war man das einfach schuldig. Mutti sagte, das er gerne jeden seiner Klassenkameraden mitbringen könne, um die Hausarbeiten zu machen und natürlich auch zum Spielen. Er solle sich bloß nicht zu viele Gedanken machen. Jan habe es jetzt bestimmt ganz gut, und er dürfe auch etwas an sich selbst denken. Das sagte sie ihm bald jeden Tag. Neulich, als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil er plötzlich großen Durst bekommen hatte, war er aufgestanden um etwas zu trinken. Auf dem Weg zur Küche hörte er, wie sich seine Eltern unterhielten. Obwohl sie in ihrem Schlafzimmer waren und leise sprachen, konnte er alles durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür verstehen. Sie sprachen über Jan und über ihn. Seine Mutter betonte immer wieder, dass sie sich Sorgen machte. "Hoffentlich ist das mit Jan kein Schlüsselerlebnis." Ja, Schlüsselerlebnis hatte sie gesagt. Mehrmals sogar. Und er merkte sich dieses komische Wort, schon weil er vor der Tür stand und auf das Schlüsselloch schaute. Seitdem musste er immer an das unverständliche Wort denken, wenn er am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei kam. Aber warum sollte er sich Gedanken machen über ein Wort, das er nicht einmal im Lexikon gefunden hatte? Entscheidend war, dass ihm Jan fehlte. Jan war sein bester Freund. Die anderen in der Schule waren gegen ihn nichts. Mit Jan hatte er sich verstanden. Mit ihm war er in den Schrebergärten herum gestreift, war er über die Straße in den kleinen Wald gelaufen. Dort hatten sie oft Spechte beobachtet, wie sie ihre Nester schlugen, und Eichhörnchen und Kaninchen, die sich an ihre Gegenwart gewöhnt zu haben schienen und selten davon liefen. Mit ihm war er zum großen Einkaufsmarkt gegangen, um die Leuten zu beobachte wenn sie auf den Parkplatz fuhren und ein parkten. Alle möglichst dicht beim Eingang. Sie sahen wie die Leute ausstiegen und sich einen Korbwagen holten, mit dem sie in dem großen Bau verschwanden, und aus dem sie nach einiger Zeit wieder herauskamen und auf ihre Autos zusteuerten. Manche schauten sich nach ihrem Auto suchend um, oder irrten gar mit dem voll gepackten Einkaufswagen über den Parkplatz, bis sie ihr Auto endlich gefunden hatten. Dann lachte Jan ganz laut. Und weil Jan lachte, lachte auch Dirk. Und so saßen sie zum Beispiel auf dem Altglasbehälter und amüsierten sich über die Menschen. So etwas war nur mit Jan möglich. Dirk ging jetzt ganz langsam. Da war sie wieder die Stelle, an der er mit Jan an jenem Abend gebalgt hatte. Einfach so. Weil es Spaß macht mit einem guten Freund herum zu tollen, sich mit ihm zu drücken, zu stoßen und die Arme zu wringen und sich dann auf dem Boden zu wälzen. Hier, an dieser Stelle hatte er über Jan gesiegt. Dirk hatte sich aus seinem gefährlichen Schwitzkasten befreit und es geschafft ihn in die Hecke zu stoßen. Immer wieder und immer kräftiger bis er ganz tief in die kleine Hecke verschwunden war und kaum noch aus eigener Kraft heraus konnte. Dirk hatte vor ihm gestanden und über den zappelnden Käfer gelacht; er hatte ihn verspottet und ihm auf die Füße getreten. Und erst nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, und Jan langsam ärgerlich wurde, half ihm Dirk aus der misslichen Lage. Zurück blieb eine tiefe Beule in der Hecke, abgeknickte Zweige und viele zerquetschte und abgefallene Blätter. Weil plötzlich nicht weit von ihnen ein Mann aus einem der Schrebergärten auf den Heckengang trat und zu ihnen hinüber schaute, liefen sie lachend davon. Schon bald nahmen sie ihre freundschaftliche Fehde wieder auf, indem sie sich - während sie liefen - behinderten oder schubsten, so das mal Jan ihm, dann wieder er Jan nachstellte. Bis sie zur Straße kamen an jenem Abend vor fünf Wochen. Dirk stand nun dort, wo er auch gestanden hatte als Jan in der Hecke saß und zappelte. Von der Einbuchtung war kaum noch etwas zu sehen. Die nicht abgeknickten Zweige waren an ihrer natürlichen Stelle zurück gefedert, und frische Blätter sprossen aus den dünnen Zweigen. Dirk hockte sich dicht davor und berührte die jungen Blätter. Da, plötzlich sah er ihn zappeln. Einen kurzen, ungreifbaren Moment. Dann war diese Erinnerung, die so nah und lebendig war, verschwunden und Dirk sprang auf, von der Dämmerung gemahnt. Seine Eltern würden schon warten. Aber er musste erst zur Straße. Heute auf jeden Fall! Die Straße war nicht mehr weit, vielleicht gerade noch hundert Meter. Der Heckengang mündete zwischen hohen, dicht zusammenstehenden Tannen, mit denen sich die Kleingärtner etwas gegen die vorbei brausenden Autos schützten. Dem Heckengang schräg gegenüber führte ein kleiner Weg ab, mit einer Buskehre und einer Telefonzelle. stadtauswärts säumten ein paar Eichen die Straße. Nach dem Ortsschild führte die Straße durch den kleinen Wald, in dem er mit Jan oft gewesen war. Im vergangenen Sommer hatten sie am Anfang des weiten Bogens am Straßenrand gehockt und den Autos ein Pappschild entgegengehalten. Mit dunkelblauem Stift hatten sie eine fette Fünfzig auf das Schild gemalt, und ein paar Leute winkten dankbar aus ihren Autos. Und alle wurden erkennbar langsamer. Doch plötzlich war ein großer Polizist hinter ihnen aufgetaucht, mit einer rauen Stimme und mit dunklen Augen. Der Polizist war nicht freundlich gewesen. Keiner von denen, die in die Schule kamen, um die Fahrräder zu kontrollieren, wobei sie immer Späße machten. Der große Polizist nahm ihnen das Pappschild weg, sagte, das sei verboten und befahl ihnen nach Hause zu gehen. Als sie schon etwas von dem finsteren Mann weg waren, hatte sich Jan umgedreht und ihm eine Nase gezeigt, und da haben sie beide gelacht. Dirk hatte die Straße erreicht. Die Laternen leuchteten schon und die Autos fuhren mit Licht. Er blieb ruhig am Straßenrand stehen und schaute ihnen hinterher. Die stadteinwärts fahrenden Autos kamen aus dem Wald heran gebraust. Erst als sie den Heckengang passierten und dem weiten Bogen der Straße folgten, bremsten sie. Aber nur bei einigen leuchteten die Rücklichter auf, die meisten ließen ihren Wagen auslaufen. Die stadtauswärts fahrenden wurden dafür immer schneller, wissend, daß sie bald am Ortsschild vorbei waren. Manche wurden von noch schnelleren mit aufheulendem Motor überholt, als wollte sie wie ein Düsenjet abheben und in den weiten Himmel entschwinden. Dirk schaute zur Telefonzelle. Sie war besetzt. Ein alter Mann telefonierte schon die ganze Zeit. Immer wieder von neuem steckte er eine Münzen in den Apparat. Hoffentlich würde er nicht zu lange brauchen. In der Dämmerung waren die Autos noch unheimlicher. Zwei dämonische Augen die sich über die Straße fraßen und kein Erbarmen verrieten. Die Insassen waren kaum zu erkennen. Menschen feindliche Wesen von eigenartiger Bewegungslosigkeit. Starr saßen sie da, keine Augen, kaum ein Gesicht. Lebloser als die Puppen in seinen Modellautos. Endlich verließ der alte Mann die Telefonzelle und schlürfte auf dem Weg jenseits der Straße davon. Dirk überzeugte sich nochmals des Zettel in seiner Hosentasche. Damals war er hinter Jan gelaufen und wollte ihn gerade am Kragen packen. Da war Jan sehr schnell geworden. Und die Polizei hatte gesagt, das Auto muss mehr als siebzig Stundenkilometer gefahren sein, vor fünf Wochen. Nun war Dirk allein. Jan wird es jetzt besser haben, hatte seine Mutter gesagt und er hatte es Jan versprochen, es war ja sein Bruder, sein Blutsbruder, wie Winnetou und Old Shatterhand Blutsbrüder waren. Und sein Versprechen musste man halten. Das war ja klar. Deshalb stand Dirk jetzt in der Mündung des Heckenganges, neben den großen Tannen, die einen weiten Schatten warfen und das Licht der Straßenlaternen nicht in den Gang ließen. Nun war er ganz ruhig und beobachtete den Verkehr, wobei er den Zettel in seiner Hosentasche festhielt. Plötzlich musste Dirk an seine Eltern denken. Die sorgten sich jetzt bestimmt. Es war ja fast dunkel, und als er an seine Eltern dachte bekam er etwas Angst. Weil die immer größer wurde, diese Angst, hätte er beinahe nicht gemerkt, das auf der linken Seite kein einziges Auto fuhr. Alles war dunkel dort draußen, kein Dämon! Erschrocken schaute Dirk nach rechts, da, nur ein einzelnes Auto näherte sich, wie vor fünf Wochen, und es fuhr genauso schnell. Da lief er los, und mitten auf der Straße erfasste ihn das Licht der Scheinwerfer. Abrupt blieb er stehen, sprang zurück, hörte Reifen quietschen - wie vor fünf Wochen - lief in den Schatten der Tannen, spürte wie das Ungetüm an ihm vorbei rauschte und konnte gerade noch sehen wie es über die Straße schleuderte, auf die Gegenfahrbahn geriet, über sie hinaus schoss und mit einem schrecklichen Knall gegen eine Eiche prallte. Dann war alles ruhig. Dirk fasste in die Hosentasche. Sein Zettel war verschwunden. Verwirrt schaute er auf die Straße, aber in dem Schatten der Tannen war nichts zu sehen. Auch musste er jetzt zur Telefonzelle, denn schon kamen die nächsten Autos stadtauswärts und auch weit draußen im Wald blitzten Scheinwerfer auf. So schnell er nur konnte lief er über die Straße, lief zur Buskehre wo die Telefonzelle stand, öffnete die Tür, nahm den Hörer ab und riss den Hebel herunter, der an dem Kasten neben dem Münzapparat hing und auf dem NOTRUF stand. Mit zitternder Hand hielt Dirk den Hörer. In dem Kasten klapperte es und plötzlich meldete sich eine Stimme während er zur Unfallstelle schaute. Dort hielten die ersten Autos. Ein Unfall sei geschehen, sagte er mit brechender Stimme. Das eine Wort auf dem Zettel war WAS gewesen: ein Unfall hatte er gesagt und das andere Wort war WO; daran konnte er sich erinnern und Dirk sagte, wo er sich befand, aber dann musste er plötzlich weinen und hängte den Hörer ein. Dort draußen hielten immer mehr Autos, und Menschen standen herum. Aber keiner kam zur Telefonzelle, wie damals. Sie standen in einer Traube und schauten, aber er, er hatte schon angerufen. Langsam ging er auf die Straße, zitternd am ganzen Körper. Ein paar Leute zogen einen Menschen aus dem Dämon und sie legten ihn auf die Straße, nicht weit von der Stelle, wo auch Jan gelegen hatte. Dieser Mensch blutete, aber er bewegte sich, seine Beine zuckten, als wollten sie etwas Schreckliches abschlagen. Ach Jan, du hast es jetzt gut, dachte er und das er sein Versprechen gehalten hatte. (c) Klaus Dieter Schley
Wesen aus Fantasie und Worten Der Storybeutel
Rache für Blutbruder Jan Dirk hüpfte am Eingang des Heckenganges immer. Eine Gewohnheit die er mit seinem Freund bis vor ein paar Wochen noch teilte. Ob Jan ihm dabei zuschaute? Mutter hatte ja gesagt, das sie es können. Nach einigen Metern wurde er langsamer. Nur noch alle drei, vier Schritte sprang er hoch; einfach mal so. Dann unterließ er auch das. Irgendwann griff er wie jeden Abend in seine Hosentasche und wühlte nach dem Zettel. Er war noch da, war nicht von der Mutter heraus geschüttelt worden, wenn er Abends die Hose ausgezogen und über den Stuhl gelegt hatte. Der Zettel war wichtig. Aus irgendeinem Grund vergaß er immer eines der Worte. Deshalb hatte er sie sich notiert. Genau in der Reihenfolge, in der sie in dem Buch für Fahrschüler angegeben waren. Er würde es richtig machen. Das hatte er seinem Freund versprochen, dem er ja auch die Rache versprochen hatte. Seinem Blutsbruder war man das einfach schuldig. Mutti sagte, das er gerne jeden seiner Klassenkameraden mitbringen könne, um die Hausarbeiten zu machen und natürlich auch zum Spielen. Er solle sich bloß nicht zu viele Gedanken machen. Jan habe es jetzt bestimmt ganz gut, und er dürfe auch etwas an sich selbst denken. Das sagte sie ihm bald jeden Tag. Neulich, als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, weil er plötzlich großen Durst bekommen hatte, war er aufgestanden um etwas zu trinken. Auf dem Weg zur Küche hörte er, wie sich seine Eltern unterhielten. Obwohl sie in ihrem Schlafzimmer waren und leise sprachen, konnte er alles durch den schmalen Spalt der angelehnten Tür verstehen. Sie sprachen über Jan und über ihn. Seine Mutter betonte immer wieder, dass sie sich Sorgen machte. "Hoffentlich ist das mit Jan kein Schlüsselerlebnis." Ja, Schlüsselerlebnis hatte sie gesagt. Mehrmals sogar. Und er merkte sich dieses komische Wort, schon weil er vor der Tür stand und auf das Schlüsselloch schaute. Seitdem musste er immer an das unverständliche Wort denken, wenn er am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei kam. Aber warum sollte er sich Gedanken machen über ein Wort, das er nicht einmal im Lexikon gefunden hatte? Entscheidend war, dass ihm Jan fehlte. Jan war sein bester Freund. Die anderen in der Schule waren gegen ihn nichts. Mit Jan hatte er sich verstanden. Mit ihm war er in den Schrebergärten herum gestreift, war er über die Straße in den kleinen Wald gelaufen. Dort hatten sie oft Spechte beobachtet, wie sie ihre Nester schlugen, und Eichhörnchen und Kaninchen, die sich an ihre Gegenwart gewöhnt zu haben schienen und selten davon liefen. Mit ihm war er zum großen Einkaufsmarkt gegangen, um die Leuten zu beobachte wenn sie auf den Parkplatz fuhren und ein parkten. Alle möglichst dicht beim Eingang. Sie sahen wie die Leute ausstiegen und sich einen Korbwagen holten, mit dem sie in dem großen Bau verschwanden, und aus dem sie nach einiger Zeit wieder herauskamen und auf ihre Autos zusteuerten. Manche schauten sich nach ihrem Auto suchend um, oder irrten gar mit dem voll gepackten Einkaufswagen über den Parkplatz, bis sie ihr Auto endlich gefunden hatten. Dann lachte Jan ganz laut. Und weil Jan lachte, lachte auch Dirk. Und so saßen sie zum Beispiel auf dem Altglasbehälter und amüsierten sich über die Menschen. So etwas war nur mit Jan möglich. Dirk ging jetzt ganz langsam. Da war sie wieder die Stelle, an der er mit Jan an jenem Abend gebalgt hatte. Einfach so. Weil es Spaß macht mit einem guten Freund herum zu tollen, sich mit ihm zu drücken, zu stoßen und die Arme zu wringen und sich dann auf dem Boden zu wälzen. Hier, an dieser Stelle hatte er über Jan gesiegt. Dirk hatte sich aus seinem gefährlichen Schwitzkasten befreit und es geschafft ihn in die Hecke zu stoßen. Immer wieder und immer kräftiger bis er ganz tief in die kleine Hecke verschwunden war und kaum noch aus eigener Kraft heraus konnte. Dirk hatte vor ihm gestanden und über den zappelnden Käfer gelacht; er hatte ihn verspottet und ihm auf die Füße getreten. Und erst nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, und Jan langsam ärgerlich wurde, half ihm Dirk aus der misslichen Lage. Zurück blieb eine tiefe Beule in der Hecke, abgeknickte Zweige und viele zerquetschte und abgefallene Blätter. Weil plötzlich nicht weit von ihnen ein Mann aus einem der Schrebergärten auf den Heckengang trat und zu ihnen hinüber schaute, liefen sie lachend davon. Schon bald nahmen sie ihre freundschaftliche Fehde wieder auf, indem sie sich - während sie liefen - behinderten oder schubsten, so das mal Jan ihm, dann wieder er Jan nachstellte. Bis sie zur Straße kamen an jenem Abend vor fünf Wochen. Dirk stand nun dort, wo er auch gestanden hatte als Jan in der Hecke saß und zappelte. Von der Einbuchtung war kaum noch etwas zu sehen. Die nicht abgeknickten Zweige waren an ihrer natürlichen Stelle zurück gefedert, und frische Blätter sprossen aus den dünnen Zweigen. Dirk hockte sich dicht davor und berührte die jungen Blätter. Da, plötzlich sah er ihn zappeln. Einen kurzen, ungreifbaren Moment. Dann war diese Erinnerung, die so nah und lebendig war, verschwunden und Dirk sprang auf, von der Dämmerung gemahnt. Seine Eltern würden schon warten. Aber er musste erst zur Straße. Heute auf jeden Fall! Die Straße war nicht mehr weit, vielleicht gerade noch hundert Meter. Der Heckengang mündete zwischen hohen, dicht zusammenstehenden Tannen, mit denen sich die Kleingärtner etwas gegen die vorbei brausenden Autos schützten. Dem Heckengang schräg gegenüber führte ein kleiner Weg ab, mit einer Buskehre und einer Telefonzelle. stadtauswärts säumten ein paar Eichen die Straße. Nach dem Ortsschild führte die Straße durch den kleinen Wald, in dem er mit Jan oft gewesen war. Im vergangenen Sommer hatten sie am Anfang des weiten Bogens am Straßenrand gehockt und den Autos ein Pappschild entgegengehalten. Mit dunkelblauem Stift hatten sie eine fette Fünfzig auf das Schild gemalt, und ein paar Leute winkten dankbar aus ihren Autos. Und alle wurden erkennbar langsamer. Doch plötzlich war ein großer Polizist hinter ihnen aufgetaucht, mit einer rauen Stimme und mit dunklen Augen. Der Polizist war nicht freundlich gewesen. Keiner von denen, die in die Schule kamen, um die Fahrräder zu kontrollieren, wobei sie immer Späße machten. Der große Polizist nahm ihnen das Pappschild weg, sagte, das sei verboten und befahl ihnen nach Hause zu gehen. Als sie schon etwas von dem finsteren Mann weg waren, hatte sich Jan umgedreht und ihm eine Nase gezeigt, und da haben sie beide gelacht. Dirk hatte die Straße erreicht. Die Laternen leuchteten schon und die Autos fuhren mit Licht. Er blieb ruhig am Straßenrand stehen und schaute ihnen hinterher. Die stadteinwärts fahrenden Autos kamen aus dem Wald heran gebraust. Erst als sie den Heckengang passierten und dem weiten Bogen der Straße folgten, bremsten sie. Aber nur bei einigen leuchteten die Rücklichter auf, die meisten ließen ihren Wagen auslaufen. Die stadtauswärts fahrenden wurden dafür immer schneller, wissend, daß sie bald am Ortsschild vorbei waren. Manche wurden von noch schnelleren mit aufheulendem Motor überholt, als wollte sie wie ein Düsenjet abheben und in den weiten Himmel entschwinden. Dirk schaute zur Telefonzelle. Sie war besetzt. Ein alter Mann telefonierte schon die ganze Zeit. Immer wieder von neuem steckte er eine Münzen in den Apparat. Hoffentlich würde er nicht zu lange brauchen. In der Dämmerung waren die Autos noch unheimlicher. Zwei dämonische Augen die sich über die Straße fraßen und kein Erbarmen verrieten. Die Insassen waren kaum zu erkennen. Menschen feindliche Wesen von eigenartiger Bewegungslosigkeit. Starr saßen sie da, keine Augen, kaum ein Gesicht. Lebloser als die Puppen in seinen Modellautos. Endlich verließ der alte Mann die Telefonzelle und schlürfte auf dem Weg jenseits der Straße davon. Dirk überzeugte sich nochmals des Zettel in seiner Hosentasche. Damals war er hinter Jan gelaufen und wollte ihn gerade am Kragen packen. Da war Jan sehr schnell geworden. Und die Polizei hatte gesagt, das Auto muss mehr als siebzig Stundenkilometer gefahren sein, vor fünf Wochen. Nun war Dirk allein. Jan wird es jetzt besser haben, hatte seine Mutter gesagt und er hatte es Jan versprochen, es war ja sein Bruder, sein Blutsbruder, wie Winnetou und Old Shatterhand Blutsbrüder waren. Und sein Versprechen musste man halten. Das war ja klar. Deshalb stand Dirk jetzt in der Mündung des Heckenganges, neben den großen Tannen, die einen weiten Schatten warfen und das Licht der Straßenlaternen nicht in den Gang ließen. Nun war er ganz ruhig und beobachtete den Verkehr, wobei er den Zettel in seiner Hosentasche festhielt. Plötzlich musste Dirk an seine Eltern denken. Die sorgten sich jetzt bestimmt. Es war ja fast dunkel, und als er an seine Eltern dachte bekam er etwas Angst. Weil die immer größer wurde, diese Angst, hätte er beinahe nicht gemerkt, das auf der linken Seite kein einziges Auto fuhr. Alles war dunkel dort draußen, kein Dämon! Erschrocken schaute Dirk nach rechts, da, nur ein einzelnes Auto näherte sich, wie vor fünf Wochen, und es fuhr genauso schnell. Da lief er los, und mitten auf der Straße erfasste ihn das Licht der Scheinwerfer. Abrupt blieb er stehen, sprang zurück, hörte Reifen quietschen - wie vor fünf Wochen - lief in den Schatten der Tannen, spürte wie das Ungetüm an ihm vorbei rauschte und konnte gerade noch sehen wie es über die Straße schleuderte, auf die Gegenfahrbahn geriet, über sie hinaus schoss und mit einem schrecklichen Knall gegen eine Eiche prallte. Dann war alles ruhig. Dirk fasste in die Hosentasche. Sein Zettel war verschwunden. Verwirrt schaute er auf die Straße, aber in dem Schatten der Tannen war nichts zu sehen. Auch musste er jetzt zur Telefonzelle, denn schon kamen die nächsten Autos stadtauswärts und auch weit draußen im Wald blitzten Scheinwerfer auf. So schnell er nur konnte lief er über die Straße, lief zur Buskehre wo die Telefonzelle stand, öffnete die Tür, nahm den Hörer ab und riss den Hebel herunter, der an dem Kasten neben dem Münzapparat hing und auf dem NOTRUF stand. Mit zitternder Hand hielt Dirk den Hörer. In dem Kasten klapperte es und plötzlich meldete sich eine Stimme während er zur Unfallstelle schaute. Dort hielten die ersten Autos. Ein Unfall sei geschehen, sagte er mit brechender Stimme. Das eine Wort auf dem Zettel war WAS gewesen: ein Unfall hatte er gesagt und das andere Wort war WO; daran konnte er sich erinnern und Dirk sagte, wo er sich befand, aber dann musste er plötzlich weinen und hängte den Hörer ein. Dort draußen hielten immer mehr Autos, und Menschen standen herum. Aber keiner kam zur Telefonzelle, wie damals. Sie standen in einer Traube und schauten, aber er, er hatte schon angerufen. Langsam ging er auf die Straße, zitternd am ganzen Körper. Ein paar Leute zogen einen Menschen aus dem Dämon und sie legten ihn auf die Straße, nicht weit von der Stelle, wo auch Jan gelegen hatte. Dieser Mensch blutete, aber er bewegte sich, seine Beine zuckten, als wollten sie etwas Schreckliches abschlagen. Ach Jan, du hast es jetzt gut, dachte er und das er sein Versprechen gehalten hatte. (c) Klaus Dieter Schley
Sie hielt den Hörer noch in der Hand obwohl er längst aufgelegt hatte. Ein Kilo Butter sollte sie mitbringen, Deutsche Markenbutter, das hatte der Mann betont, und zwei Stück Seife. Welche sei ihm gleichgültig, nur duften sollte sie nicht zu stark. "Ein Kilo Butter und zwei Stück Seife?" Die Kollegin von Marianne schaute skeptisch, als sie von dem Telephonat hörte.  "Und die Martinistraße ist auch nicht die erste Adresse."  "Aber was soll ich machen? Ich brauche eine Wohnung."  "Andererseits sind Butter und Seife auch nicht zuviel verlangt. Da gibt es ganz andere Forderungen."  "Eben."  "Wann sollst du kommen?"  "Um halb sechs."  "Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück."   Mit dem Bus fuhr Marianne bis fast vor die Haustür.  "Nummer 114", hatte der Mann gesagt. "Gleich neben dem Waffengeschäft, falls Sie die Hausnummer nicht erkennen können. Sie ist etwas verwittert."  Aber nicht nur die Hausnummer war verwittert. Von der gesamten Fassade des drei stöckigen Gebäudes war die Farbe abgeblättert und an einigen Stellen bröckelte schon der Putz.   Eine Weile stand Marianne vor der dunkelbraunen Tür und studierte die verblaßten Namen auf den Schildchen, - sofern welche eingetragen waren.  Der Mann hatte seinen Namen nicht erwähnt und sie hatte vergessen danach zu fragen. Überhaupt hatte er kaum etwas über die Wohnung erzählt, nur das es eine Dachwohnung sei.  "Und wenn Sie meinen, Sie müßten die Bude unbedingt anschauen, gut, ich dränge keinen. Nur denken Sie bitte an die Butter und die Seife. Und seien Sie pünktlich! Es kommen ja noch andere Interessenten", hatte er ihr kurz und knapp erklärt.  Mariane drückte gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Schwer aber fast lautlos ließ sie sich öffnen. Der strenge Geruch eines Treppenhauses, in dem sich die Düfte aus allen Küchen vereinten, empfing sie. Eine Zeitung rutschte aus dem Postkasten und fiel auf die grauen Fliesen.  "Sind Sie Frau Friedrichs?"  Erschrocken schaute Marianne hoch. Auf dem Treppenabsatz stand ein alter zitternder Mann, bekleidet mit einem zerschlissenen Morgenmantel und gestützt auf einem knorrigen Spazierstock.  Marianne nickte.  "Sie kommen wegen der Wohnung. Gut. Ich aber glaube kaum, das sie Ihnen zusagen wird. Das sage ich Ihnen gleich. Aber meinetwegen. Schauen Sie sich die Wohnung an. Es ist eine Dachwohnung über der dritten Etage. Sie haben die Butter mitgebracht, und die Seife?"   Marianne zog eine Tüte aus ihre Tasche.  "Sehr gut. Geben Sie mir."  Sie stieg zum ersten Treppenabsatz und reichte die Tüte dem Mann. Der Alte stank. Nach Schweiß, nach Bier, nach Urin. Marianne wich sofort zurück, als sie ihm die Tüte gereicht hatte. Umständlich legte er sie neben sich auf den Boden. Dann wühlte er in seiner Manteltasche. Der Alte hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hausschuhe waren breitgetreten, so das die nackten grauen Füße halb neben den Schuhen standen."  "Wieviel schulde ich Ihnen?" fragte er.  "Sie wollen bezahlen?"  "Ja selbstverständlich. Oder was dachten Sie?"  "Ich..."  "Das kann ich noch. Keine Sorge. Wenn ich auch sonst nichts mehr kann. Bezahlen aber kann ich noch."  Der Mann reichte ihr einen zehn Mark Schein. Er hatte lange, verknorpelte Finger und dreckige Fingernägel, die gelblich waren, mit schwarzen Flecken. Sie gab ihm schnell das Wechselgeld.  "Gehen Sie nun. Gehen Sie rauf und schauen Sie sich die Wohnung an. Die Tür ist offen."   Der Alte blieb mitten auf dem Absatz stehen. Er rührte sich nicht, keinen Zentimeter. Marianne schob sich schnell mit angehaltenem Atem an ihm vorbei. "Sie leben allein?" rief er, als sie schon ein paar Stufen gestiegen war.  Sie nickte. Der Alte schaute noch immer hinunter zur Tür.  "Ja oder Nein?"  "Ja, ich lebe allein."  "Gut. Ist mir recht. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen die Wohnung zusagt."  "Was soll sie kosten?"  "Kosten? Ach was. Gehen Sie erst rauf. Schauen Sie sich die Wohnung an. Alles weitere danach." Der alte Mann drehte ihr seinen Kopf etwas zu und schielte.  "Falls Sie ein danach wünschen. Aber nun gehen Sie schon!"   Das Treppenhaus war dunkel und schmutzig. Aus der rechten Wohnung in der zweiten Etage drang der Geruch verbrannter Milch. Orientalische Musik dudelte hinter der Tür. In der dritten Etage war es totenstill. Das Treppenhaus war hier zu Ende. Nur noch eine schmale Holzstiege führte ein Stück weiter hinauf auf einen dunklen Absatz. Rechts war eine grobe Holztür, die mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Links befand sich eine weiß gestrichene Wohnungstür. Sie war nicht verschlossen.    Marianne betrat einen kleinen dunklen Flur. Die Tapeten hingen von den Wänden, von der Decke rieselte Putz und an einigen Stellen war das Stroh sichtbar. Eine Schabe huschte über den zerschlissenen roten Linoleumfußboden und verkroch sich hinter einer abstehenden Fußleiste. Direkt der Wohnungstür gegenüber befand sich die Toilette. Die Tür war geöffnet. In die hinterste Ecke des Raumes, der kaum breiter war als die Tür, stand das Klosettbecken. Nasses Zeitungspapier und Tapentenfetzen quollen aus der Schüssel. Die Klosettbürste lag neben dem Eingang.   Es roch nach Staub und Kalk. Vor Mariannes Füßen lag eine alte Boulevardzeitung. Neben einem am Strand kauernden nackten Mädchen prangte die Schlagzeile "Junge Frau zerstückelt. Eingefroren".   Vorsichtig ging Marianne durch die engen Räume. In fast allen Ecken hingen dicke Spinnweben, in denen sich grauer Staub und Mörtelbrocken verfangen hatten. In jedem Raum waren in der Dachschräge kleine Fenster eingebaut. Mit Mühe konnte sie eines der klemmenden Holzfenster öffnen.   Der Blick ging über graue Hinterhöfe, über kleine, verbaute Balkons, rötlichschwarze Dächer zu einem alten, still gelegten Fabrikgebäude. Überraschend ruhig war es ja hier oben, dachte sie. Vom Straßenlärm war kaum etwas zu hören. Aber bin ich Innenarchitektin?   Sie drückte das Fenster wieder zu. Als sie sich umdrehte, huschte an der gegenüberliegenden Wand ein Schatten vorüber und im gleichen Augenblick knallte eine Tür. Sie riß ihre Hand hoch, legte sie an ihren Mantelkragen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.   "Ist da jemand!" rief sie. Niemand antwortete.   Plötzlich baumelte eine fette Spinne vor ihren Augen. Entsetzt sprang sie zur Seite. Die Spinne hangelte sich an ihrem Faden hoch und verschwand in einem Loch der Dachschräge.  Marianne eilte zum Ausgang. Die Wohnungstür war zu gefallen. Ihr fehlte die Türklinke. "Hallo!" rief sie und klopfte gegen die Tür. Doch im ganzen Haus schien es kein Leben zu geben. Nur aus weiter Ferne erscholl ein Martinshorn. Da entdeckte Marianne auf dem Fußboden die Türklinke. Sie hob die Klinke auf, stopfte sie in das Loch und öffnete die Tür.  In der zweiten Etage war es jetzt auch still und der Geruch von verbrannter Milch hatte sich mit den anderen Gerüchen vermischt.   Der alte Mann war nicht mehr da. Marianne wollte ihn schon rufen, aber sie wußte ja nicht einmal seinen Namen. Und wozu auch? Sie lief die restlichen Stufen hinab, zog die schwere Haustür auf und stand auf dem Bürgersteig.   Der lebhafte Straßenverkehr tat ihr gut. Sie atmete kräftig durch, nahm den Zehner aus ihre Manteltasche, den ihr der Alte für die Butter und die Seife gegeben hatte, und steckte ihn in ihr Portemonnaie. Dann ging sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Noch immer spürte sie den Geruch des Hausflures und des Alten in ihre Nase.  Als sie an der Haltestelle wartete, kam ein junges Paar vorbei. Er trug einen Waschmittelkarton, sie einen Packen Toilettenpapier.  "Hat er nicht gesagt warum wir das mitbringen sollen?" fragte der Junge.  Das Mädchen schüttelte den Kopf.  Marianne schaute den Beiden nach, wie sie bis zu Nummer 114 gingen, auf die Klingelknöpfe schauten und dann durch die dunkle Haustür verschwanden.     (c) Klaus Dieter Schley
Klaus Dieter Schley, 2015